Als Arigona heimkommt und ihr niemand öffnet, spürt sie, dass etwas geschehen ist. Sie läuft um das Haus herum, blickt durch das Milchglas des Küchenfensters und kann nichts erkennen. "Mama, wo bist du?", brüllt sie, doch niemand antwortet, nur eine fette Bauernkatze miaut, Raben schreien ihr Hohngelächter in den Himmel. Im Hintergrund vibriert das Tuckern eines Traktors, das Kreischen einer Kreissäge ist zu hören. "Mama? Mama, geht's dir gut?" Sie läuft zurück zur Tür, reißt die Werbeprospekte der Diskonter aus dem Briefschlitz, die Billigangebote für Laptops, Bohrmaschinen, Flachbildfernseher, Nilkreuzfahrten und all die anderen Dinge, die sie sich doch nicht leisten können.
So unerwünscht kann man gar nicht sein, dass einem die Werbung nichts verkaufen will. Arigona hebt die Klappe und blickt durch den Schlitz. Sie erkennt die Tischbeine, auf dem Boden liegende Zeitungen und die Beine ihrer Mutter, den Schoß, aus dem Arigona und ihre vier Geschwister gekommen sind, daneben eine leblos herabhängende Hand, von der ein roter Blutfaden läuft. Das Mädchen weiß sofort, was los ist.
Zu Hilfe geeilte Nachbarn heben die Tür aus den Angeln und verständigen die Rettung. Nurie ist ganz bleich, wie eine weiße Seerose auf einem roten Teich sitzt sie inmitten einer Blutlache. Die linke Hand hängt herab, in die rechte hat sie ein Familienfoto aus besseren Tagen gepresst. Auf ihrem Knie liegt eine scharfe Klinge. Wo hat sie die her? Sind nicht vorsichtshalber alle Scheren und scharfen Messer entfernt worden?
Der Rettung gelingt es, sie zu stabilisieren. Als sie wieder zu sich kommt, beginnt sie albanische Kinderlieder zu singen. Sie glaubt, sie ist im Himmel. Dann sieht sie die Krankenschwester von den Philippinen und das helle, weiße Zimmer. Eine Mitpatientin starrt in den Fernseher, es läuft eine Telenovela namens "Reich und schön".
(S. 65f.)
© 2009 Zsolnay Verlag, Wien.