Leseprobe:
Berlin, Dezember
Lucy
1
Nach Hause möchte ich.
Dieser Satz war in mir, Simon, heute Morgen, als ich aufwachte und nicht mehr wußte, was geschehen war.
Nichts wußte ich mehr, nichts von dir oder mir oder irgendjemanden sonst.
Nur dieses diffuse Gleiten gab es, wenn man sich in den Tag hineinarbeitet, aus Träumen heraus oder Drogen.
Und etwas mitnimmt: ein Bild, eine Stimme, einen Satz.
Überall war es weiß, als ich aufblickte, makellos weiß, eine Art grundloses Existieren – es zog einen Schmerz nach sich. Der Schmerz war wie etwas, das ich einmal gekannt, aber irgendwann vergessen hatte.
Weißweißweiß.
War es Licht?
War es Farbe?
Der Satz blieb. Er glühte weiter in dieser blendenden Gleichgültigkeit, die alles erfüllte – außen wie innen.
Aber nach einer Weile, die eine Sekunde gewesen sein könnte oder eine Stunde, dachte ich: nein. Nicht weiß. Nicht weiß ist das, sondern grau, gräulich. Eine glatte Fläche. Und je länger ich sie betrachtete, desto mehr veränderte sich ihre Struktur, wurde porös, löste sich schließlich auf in Helles und Schattiges. Und später oder gleich taten sich diese feinen Linien auf, ein Netz von Linien, und in den Ecken weiteten sie sich aus, zu Rissen.
Und während ich all das sah, war klar: Ich bin das, Lucy.
Nach Hause möchte ich.
Dann begriff ich: Das ist die Decke meines Zimmers.
Ich liege im Bett.
Das Zimmer muß ausgemalt werden, dringend.
Stop. Falsch.
Es dauerte, bis ich fähig war zu erkennen, was falsch war. Worum es ging.
Darum ging es: Um meinen Körper.
Mein Körper war nicht mehr da.
Keine Schwere von Armen und Beinen, kein Kopf im Kissen, keine Zunge, keine Zähne im Mund.
Das war das Seltsamste; dieses Nichts.
Nur mehr aus zwei Augen bestand ich, die nach oben starrten und die Decke des Zimmers betrachteten, mit dem abgebrochenen Stuckkranz aus Lorbeerblättern in der Mitte.
Von einem Lorbeerblatt hing ein Faden, ungefähr drei Meter über mir.
Ein grauer, von fahlem Licht erhellter, zarter Strick.
(S. 5-6)
© 2017 Otto Müller Verlag, Salzburg.