In einem Kaffeehaus hatte ich Karl Adler kennengelernt, den jüngeren Sohn des sozialdemokratischen Parteiführers Dr. Victor Adler. Karl führte mich in das Haus seiner Eltern ein, und ich bekam einen starken Eindruck von der Persönlichkeit seines Vaters.
Victor Adler war damals fünfzig Jahre alt. Er entstammte dem mir wohlbekannten Milieu des wohlhabenden jüdischen Bürgertums, ja, er war von Haus aus reich gewesen, bevor er sein Vermögen bedenkenlos seinen politischen Idealen geopfert hatte. Er hatte Medizin studiert, und daß er Arzt war, merkte man ihm sogleich an. Drei sehr ungleiche Menschen, die in meinem Leben eine Rolle gespielt haben, Freud, Adler, Arthur Schnitzler, hatten in ihrem Wesen etwas Gemeinsames: Sie waren Österreicher, Juden und Ärzte; das gab ihnen eine gewisse sarkastische Güte, einen skeptischen Witz, einen Idealismus ohne Gläubigkeit. Victor Adler hatte die zynische Zunge und das edle Herz, die alten vielerfahrenen Ärzten oft eigen sind. (S. 45f.)
(c) 1998, Picus, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
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