Der Spagat
Jänner 1991
In einem Gespräch mit einer Schulklasse über Wilhelm Tell fragt mich plötzlich ein Bub, was ein Dramaturg sei. Da ich diese Frage eigentlich nicht beantworten kann, hole ich, wenn mir diese Frage gestellt wird, meist weit aus und beginne bei den alten Griechen. Ein Philosoph der Antike ist nämlich der erste Dramaturg gewesen, was natürlich nicht heißt, daß ein Dramaturg auch ein Philosoph sein muß. Jedenfalls ist der Dramaturg als Denkmaschine ans Theater engagiert. Manchmal ist er auch eine Art Papierkorb für jene Arbeiten, die übrig bleiben, weil keiner sich dafür zuständig hält. Und so pendelt der Dramaturg täglich zwischen den Polen "Denkfabrik" und "Mädchen für alles und nichts".
Wer aber diesen täglichen Spagat aushält oder gar auf Dauer überlebt - der ist tatsächlich ein Dramaturg. (S. 65)
Prophezeiung
Februar 1993
Völlig unbeachtet von der Öffentlichkeit, in der doch sonst alles von und über das Burgtheater kolportiert und ausposaunt wird, flattern eines Tages die Worte "Mord und Totschlag" auf dem Dach des Burgtheaters. Die weiße Fahne mit dem schlichten Schriftzug "Burgtheater" ist für einige Stunden vertauscht. Und niemand nimmt es wahr, außer Oliver Herrmann. Er macht Bilder für eine große Burgtheaterreportage des stern, in der auch von Thomas Bernhards Idee berichtet werden soll. Es ist nämlich Bernhards sarkastischer Vorschlag gewesen, dieses Begriffspaar als Motto für die Burg zu wählen, als ihm Peymann erzählte, er überlege ernsthaft, die klassische Forderung "Dem Wahren, Schönen, Guten" auf dem Dach zu hissen. Unsinn, meinte Bernhard, allein "Mord und Totschlag" sei passend, davon handle das Theater, das fände jeden Tag in und außerhalb des Theaters statt. Und so flattern für einen kurzen Moment und für ein Bild "Mord und Totschlag" tatsächlich einmal über der Burg, wie das Programm des realen Welttheaters. (S. 90)
© 2000, Paul Zsolnay Verlag Gesellschaft m.b.H., Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
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