LESEPROBE:
Dass meine Nase heute auf keinem Foto stört, hat wahrscheinlich mit den Gesprächen zu tun, die unsere Mutter mit mir schon in meiner Kindergartenzeit führte. Der Satz, der mir immer am meisten Angst einjagte:
»Sobald du achtzehn bist, wirst du dir deine Nase operieren lasen.«
»Aber was ist, wenn ich das nicht will, weil ich mich davor fürchte?«
»Nun, dann solltest du auf jeden Fall, sooft du nur kannst, den Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger zusammendrücken. Du bist noch im Wachstum, und wenn du Glück hast, hilft auch das.«
Von diesem Glück erhoffte ich mir viel und presste deshalb über Jahre hinweg meine Nase, wann immer ich mich unbeobachtet fühlte, mit aller Kraft zusammen. Mein Glaubenssatz lautete: Erst wenn es wehtut, wird es wirken. Ich musste dem Schicksal beweisen, wie sehr ich es wollte, und mit aller Kraft zudrücken.
[…]
Jeden Sonntagnachmittag fuhren wir in dasselbe Restaurant, wo ich immer die gleichen drei Gänge bestellte: Crevettencocktail, Wiener Schnitzel und Coupe Dänemark. Wie alle Kinder mochte ich die Verlässlichkeit des ewig Gleichen. Das Menü meiner Kindheit bestand aus kleinen Tierkörpern, die in rosa Soße aus Ketchup getaucht waren, einem goldgelb verpackten Stück Fleisch und Vanilleeis, über das eine doppelte Portion heißer Schokolade lief. Dieses Sonntagsessen entschädigte mich für die Gerichte, die von unserer Mutter – sofern sie und der Cadillacfahrer anwesend waren – unter der Woche serviert wurden: Nieren, Leber, Zunge, Hirn mit Ei. Der neue Mann an ihrer Seite war Franzose und musste bei Laune gehalten werden. Wenn ich die gummiartigen Nieren oder das glibbernde Hirn auf den Teller spuckte, befahl er mir aufzustehen und auf mein Zimmer zu gehen.
Ansonsten wurde mit uns bei Tisch nicht gesprochen. Wenn der Cadillacfahrer etwas über mich oder meine Schwester wissen wollte, wandte er sich beim Abendessen an meine Mutter.
»Aben die Kinder irre Ausaufgaben gemacht?«, fragte er mit starkem Akzent.
»Ja« antwortete sie ihm, nachdem sie zu uns hinübergesehen und wir genickt hatten. Danach stocherten meine Schwester und ich am gegenüberliegenden Tischende weiter in unseren Tellern.
Essen war ein wichtiges Thema. Überall konnte ich zu jener Zeit beobachten, wie aufstiegsbereite bürgerliche Ehefrauen all ihren Ehrgeiz darauf verwendeten, ihre Männer einzukochen. Einmal im übertragenen Sinn, indem sie jeden Abend wie aus dem Journal gekleidet auf ihre bessere Hälfte warteten. Und einmal wortwörtlich, indem sie alles boten, was vier Herdflammen und ein Backrohr hergaben.
Meine Mutter, der die plötzliche Verarmung ihrer Familie seit Kindertagen in den Knochen saß, nahm ihren Job besonders ernst. Sie ließ sich aus Frankreich sechs in Leder gebundene Rezeptbücher kommen und kochte sich probeweise von der ersten bis zur letzten Seite durch. Dabei trug sie den ganzen Tag Lockenwickler unter einem dicken Tuch, damit die Haare den Küchengeruch nicht annahmen. Abends stand sie mit großen frisierten Wellen voller Haarspray in Seidenkleid, Nylonstrümpfen und hohen Schuhen in der Tür und empfing ihren Versorger. Dazu trug sie täglich anderen Schmuck. Ich war jetzt acht Jahre alt und wusste, dass Weißgold gerade sehr in Mode war.
© 2014 Deuticke Verlag, Wien