Im dritten Jahr meiner unerwiderten Liebe kehrte Collin Lamont nach Canberra zurück. Er sagte mir kein Wort davon. Er sagte keinem etwas davon. Von heute auf morgen war er verschwunden. Ich hatte zwar seine Adresse und Telefonnummer, aber ihn anzurufen, brachte ich den Mut nicht auf. Meine Briefe beantwortete er nicht oder nur ganz selten. Aus dieser Zeit habe ich zwei Postkarten von ihm. eine schrieb er mir von Cornulla, die andere aus Melbourne. Es sind nichtssagende Grüße, Floskeln, geschrieben in seiner typischen zackigen Handschrift, aber ich hüte sie bis heute wie einen Schatz. Ich habe mir im Gegenzug einmal die Mühe gemacht, meine Briefe zu zählen. Ich war so stolz auf sie, dass ich jeweils eine Abschrift anfertigte. Meine Worte dünkten mich wie Preziosen, dünkten mich unsterblich und ein kostbares Zeugnis dieser Liebe. Wenn ich einen Brief an Collin endlich in die Reinschrift gebracht hatte, las ich ihn noch Tage danach mit Entzücken, Rührung oder unter Tränen. Ich dachte sogar daran, sie später einmal, wenn wir glücklich verheiratet wären und er ein großer Dichter geworden, in einem Roman niederzulegen. Unter Pseudonym versteht sich, um den Nobelpreisträger in spe nicht zu kompromittieren. Nun, ich zählte an die zweihundert Briefe und Karten, die ohne Antwort geblieben sind. Was habe ich mir auf meine Hartnäckigkeit nicht alles eingebildet! Oh, ich konnte ihm noch zweihundert weitere Briefe schreiben und es ertragen, wenn keine Antwort folgte. Ich wollte ihm zeigen, dass meine Liebe den längeren Atem hat als sein Schweigen. Václav sah das freilich wieder einmal ganz anders. Ich solle ja nicht denken, dass Collins zweihundertfaches Schweigen nicht ebensolches Gewicht habe wie das Bekenntnis aller meiner Briefe.
(S. 86 f.)
© 2002, Reclam Verlag, Leipzig.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.