In der Nacht auf Michale des Jahres 1922 schrak Antonia Sahler aus einem vielstimmigen Traum. Mit entseelten Augen starrte das Kind in die von grauem Mondlicht erfüllte Kammer und hatte Gewißheit: Abschied nehmen müsse es von daheim, wegtgehen, und zwar bald, und zwar für immer.
Ein letzter großer Sommertag hatte sich noch einemal in St. Damian hoch über dem Rheintal verzettelt, hatte die südliegenden Bergwiesen versengt und gegen Abend all seine Glut in die Stuben und Ställe des Dorfes gedrückt. Selbst die Nacht blieb noch schwül, ungewöhlich für die Zeit. Es war Herbst. Die Luft staubte von Heublumensamen. Der süßliche Geruch gärenden Heus kroch aus der angrenzenden Tenne herauf in die Kammer, wo das siebenjährige Mädchen erwacht war und mit offenem Mund in die Nacht lauschte.
In dem Traum hatte sich Antonia in einer ihr unbekannten Landschaft vorgefunden, einer Landschaft, der das Gesicht fehlte, die Falten, die Kanten - das Lachen. Die heimatlichen Berge waren vergangen: die Grate und Gipfel, die breiten, endlosen Kämme und die gewölbten, bewaldeten Rücken. Der Pilatuskopf war verschwunden, der mit seiner gefurchten Stirn St. Damian im Norden überragte. Die glattwandigen Felsnadeln im Osten, genannt Martinswand und Hohes Licht, ebenso. Weit und breit war kein Wald mehr zu sehen, wiewohl sich Antonia auf die Zehenspitzen stellte und lang machte. Anstelle der Fluren und Wiesen herrschte graues Einerlei, als habe sie ein himmlischer Gerichtsvollzieher eingerollt und davongetragen wie damals den Stubenteppich. Nur der volle runde Mond stand im Horizont. Das Unheimlichste aber in dieser Landschaft: Sie tönte nicht mehr, hatte ihren Klang verloren. Die Vögel sangen nicht, die Tiere waren verstummt und der Bach auch. Ja, der Herrgott hatte gar noch den Wind weggesperrt. Kein Laut oder Geräusch war mehr zu vernehmen. Alles tot. (S. 10)
© 2000, Knaus, München.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.