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Vladimir Vertlib: Lucia Binar und die russische Seele.

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Rezension

Ich habe die Augen geschlossen. Es gibt keinen Namen dafür, was uns treibt. Wir sind nichts weiter als Treibholz im Umtrieb der Zeit und treiben dem zeitlosen Ende entgegen. Ist das auch von Celan? Ich habe jedenfalls alles abbezahlt. Der Tod kommt einem unbefristeten Kredit gleich. Soll er doch zuschlagen, soll er mich erschlagen, dieser Branko. Er ist es, der damit wird leben müssen.
»Heh! Lass sie in Ruhe!« Ich erkenne die Stimme und öffne die Augen. Das androgyne Wesen hat sich zwischen mich und meinen Angreifer geschoben. Ist er wahnsinnig geworden? Branko braucht nur mit dem Finger zu schnipsen und der zarte, ätherische Moritz zerbröselt vor meinen Augen.
»
Was willst du, du Tussi?«, fragt Branko und mustert seinen um einen halben Kopf kleineren Widersacher spöttisch. »Bist du überhaupt ein Bub oder ein Mädl?«
»
Das tut nichts zur Sache«, erwidert Moritz trocken. Branko macht einen Schritt auf ihn zu und liegt plötzlich auf dem Boden. Ein kurzer Aufschrei, ein Geräusch wie ein doppeltes Händeklatschen und dann Stille. Alles geht so schnell, dass ich den Eindruck gewinne, als sei Branko über eine Bananenschale gestolpert, als habe er einen halben Salto rückwärts gemacht und sei danach hart mit dem Rücken auf unserem alten, mit blau-weißen Kacheln ausgelegten Flurboden gelandet.
Moritz steht, leicht vorn
übergebeut, und betrachtet den liegenden Branko nachdenklich, konzentriert, wie ein Wissenschaftler, der ein Tier gefangen und fixiert hat, um es nun mit professioneller Neugierde für ein Experiment vorzubereiten. Inzwischen ist die junge Frau wieder auf der Bildfläche erschienen. Sie hat ihre Kleidung in Ordnung gebracht und ihre Haare gekämmt. Ein spöttisches Lächeln huscht über ihr Gesicht. »Geschieht dir recht!«, sagt sie.
Branko öffnet die Augen. Sein Blick ist trübe. Er schüttelt den Kopf, räuspert sich, richtet den Oberkörper auf, schaut Moritz an, atmet tief durch und reagiert in einer Weise, wie ich es am wenigsten von ihm erwartet habe. »Das war ja echt geil!«, sagt er. »Wo hast du das gelernt? Was war das überhaupt? Karate? Judo? Oder irgendein anderer Scheiß?«
»
Jiu-Jitsu«, erklärt Moritz. »Polizeisportverein.«
»
Toll, wie dieser Bursche dich flach gelegt hat«, meint die junge Frau.
»
Woher weiß du, dass das ein Bursche und kein Mädl ist?«, fragt Branko, während er aufsteht und den Schmutz von Hemd und Hose abstreift.
»
Das sieht man doch.«
Zehn Minuten sp
äter sitze ich bei Moritz in der Wohnung. Ich hatte eine Studentenbude mit Postern an der Wand, einer Matratze mitten im Wohnzimmer und einen vollen Aschenbecher auf dem Boden erwartet, so wie ich das von meinen Kindern aus ihrer Jugend kannte. Stattdessen werde ich in ein liebevoll eingerichtetes Wohnzimmer geführt, in dem mir sofort ein grauer Plüschelefant auf dem Fensterbrett auffällt. Die Fenster sind schalldicht, und auch die Tür scheint vor kurzem ausgewechselt worden zu sein. Der Hauslärm dringt kaum in diese Oase jugendlicher Kuscheligkeit. Dass Moritz eine CD auflegt - Chopin, Klavierkonzert - und mir einen Kombucha-Saft und eine Mango, ein »Fair- Trade-Produkt aus rein biologischem Anbau« - anbietet, bestätigt meinen Eindruck, es mit einem ganz besonderen jungen Mann zu tun zu haben.
Ich bedanke mich f
ür seine Hilfe, trinke den Saft, rühre die Mango aber nicht an (sie sieht viel zu gesund aus, um genießbar zu sein), beginne ihn ein wenig auszufragen. Ich habe längst beschlossen, seine Petition zur Umbenennung der Großen Mohrengasse zu unterschreiben, um ihm eine Freude zu machen, möchte ihm das aber erst am Ende des Gesprächs mitteilen. Er antwortet verlegen, einsilbig, weicht aber keiner meiner Fragen aus.
»
Die Mama ist Ärztin, Gerichtsmedizinerin, um genau zu sein.«
»
Und der Vater?«
»
Der ist Hausmann. Er hat einmal Vergleichende Literaturwissenschaften studiert. Das war zu seiner Zeit nicht wirklich günstig.«
»
Geschwister?«
»
Zwei Halbgeschwister. Ein älterer Halbbruder aus der ersten Ehe meines Vaters und eine jüngere Halbschwester.«
»
Auch väterlicherseits?«
»
Nein. Vor fünfzehn Jahren hat Mama einmal einen längeren Urlaub gemacht.«
Weitere zehn Minuten sp
äter sprechen wir über die Zustände im Haus, über Willi und die Möglichkeiten, die es gibt, um unser Haus aus dem Ausnahme- in den Normalzustand zurückzuversetzen.
»
Mir selbst tun diese Obdachlosen leid«, erklärt Moritz.
»
Wenn wir uns alle zusammentun, ich meine, alle Hausbewohner, und ihnen ihre Quartiere wirklich menschenwürdig einrichten würden, dann wäre das doch ein vorbildhafter Akt zwischenmenschlicher Solidarität und ... «
»
Und wenn wir ihnen alle die Hälfte unserer Gehälter und Pensionen überweisen würden«, sage ich, »dann ist Thomas Morus' Utopia im kleinen Mikrokosmos der Großen Mohrengasse endgültig Wirklichkeit geworden.«
Moritz wird rot und murmelt:
»Junge Leute in meinem Alter sind oft auch so zynisch, weil sie ständig cool sein müssen. Es ist schlimm, wenn alte Leute genauso sind.«
Ȁ
ltere Menschen sind nicht cool, sie sind pragmatisch oder realistisch. Dummerweise läuft das oft auf dasselbe hinaus.«
»
Das klingt entmutigend.« Er wirft mir einen wehmütigen Blick zu. »Aber ich fürchte, dass Utopia von diesem ... eh ... Wie heißt er schnell?«
»
Thomas Morus. Thomas Moore. Haben Sie nie Robert Bolts Theaterstück A Man For All Seasons gesehen?«
»
Nein, leider nicht. Ich habe an einer HTL maturiert.
Der Deutsch- und der Englischlehrer waren froh, wenn wir halbwegs korrekte S
ätze formulieren konnten, anstatt uns gegenseitig anzurülpsen. Für Literatur war wenig Platz. Der Deutschlehrer, er war schon alt und ist inzwischen in Pension, hat mit uns zum Beispiel Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns durchgenommen. Die meisten sind daran gescheitert, weil ihnen das Buch zu lang war, und was das Ganze soll, hat sowieso kaum jemand verstanden. Aber ich bin gerade dabei, der Geistlosigkeit den Rücken zu kehren und ein eigenes Profil zu entwickeln.«
»
Was studieren Sie denn?«
»
Politikwissenschaft.«
»
Etwas ganz anderes als eine HTL.«
»
Allerdings. «
»
Wie gesagt: Die Utopie lässt sich in unserem Haus nicht verwirklichen, nachdem der Hausherr ja eigentlich etwas ganz anderes im Sinn hat. Ich werde jedenfalls in diesem Haus sterben, und wenn es sein muss, sterbe ich rechtzeitig.«
»
Haben Sie Kinder?«
Daraufhin nimmt das Gespr
äch eine Wendung, die mir nicht sonderlich angenehm ist, und so lenke ich es nach kurzer Zeit in eine andere Richtung und erzähle von meinem Erlebnis mit Elisabeth, dem, was ich bei Willi mitgehört habe, und dem Gespräch, das der Schnösel vom Call Center mit mir geführt hat.
Moritz zeigt sich mitf
ühlend. Er kenne »Leute dieser Art« zur Genüge. In seiner Heimatstadt sei jeder Dritte so und in Wien jeder Zweite. Es wäre allerdings tatsächlich spannend zu erfahren, was diese Elisabeth gegen Willi in der Hand habe.
»
Dafür müsste ich Elisabeth erst einmal ausfindig machen«, sage ich.
»
Kein Problem«, sagt er und grinst mich an. »Manchmal ist es von Nutzen, eine HTL absolviert zu haben. Ich weiß, wie man auf die Daten eines solchen Call Centers zugreifen kann.«
»
Sie meinen ... «
»
Ich möchte Sie nicht mit technischen Details belästigen, aber glauben Sie mir - mit der entsprechenden Ausbildung ist das leichter, als man glaubt, und außerdem ... «
»
Aber moralisch betrachtet ... «
»
Moralisch betrachtet, kann ich das vertreten. Schließlich geht es um eine gute Sache. Es gibt ein Recht auf Widerstand und einen natürlichen Drang zur Veränderung, und außerdem wollen wir niemandem wirklich schaden.«
»
Wirklich?«
Moritz verspricht mir, den Namen und
»alle notwendigen Kontaktdaten« bis zum nächsten Morgen in Erfahrung gebracht zu haben. Er werde mir diese Informationen allerdings nur unter der Bedingung geben, dass ...
» ... ich Ihre Petition zur Umbenennung der Großen Mohrengasse in Lange Karottengasse unterschreibe«, sage ich.
»
Quatschl« Für einen Augenblick scheint er gekränkt zu sein, verzieht den Mund zu einer Grimasse, ein auf den Kopf gestelltes V, das leicht verzerrt und seitlich verschoben ist. Bald jedoch hellt sich sein Gesicht wieder auf. »Nein, nein, Frau Binar. Ich werde Ihnen keine Karotten oder Nelson Mandelas mehr aufzwingen. Wenn Sie die Petition nicht unterschreiben wollen, dann tun Sie's nicht. Ich möchte etwas anderes.«
»
Was?«
»
Ich möchte Sie zum Gespräch mit Elisabeth begleiten.«
»
Aber ... Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.«
»
Doch, es ist gut, wenn Sie jemand begleitet. Hatten Sie nicht vor kurzem einen schweren Unfall?«
»
Das war vor mehreren Wochen, eigentlich schon Monaten. Außerdem habe ich einen Gehstock.«
»
Ich möchte dabei sein.«
Es bleibt mir nichts anderes
übrig, als nachzugeben.

(S. 132-137)
© 2015 Deuticke, Wien

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