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Marjana Gaponenko: Das letzte Rennen.

 

Leseprobe (S. 121-123):

Ich wundere mich: Wenn der Mensch eine andere Vorstellung von Zeit hätte und sie als weniger kostbar empfände – es reichte nur eine winzige Verschiebung in der Wahrnehmung –, wäre er dann mit einem anderen Bukett von Gefühlen ausgestattet? Womöglich gäbe es dann darin keine Blume der Reue, keine Blüte der Trauer, aber auch kein berauschendes Kraut der Zuneigung und keine bittere Wurzel des Hasses. Stürbe jemand, dann hieße es im engsten Familienkreis bloß: „Oh, das verblüfft uns aber“ oder „Das hätte er nicht tun sollen.“ Das Wort „schade“ würde seinen Sinn verlieren. Man könnte es dann durch das Wort „seltsam“ austauschen. Und mein Vater? Dass er etwa in einer besonderen Weise an mir hinge, hatte er mir nie zu verstehen gegeben. Dasselbe konnte ich auch über mich sagen. Mehr schlecht als recht erfüllten wir unsere Rollen als Vater und Sohn, die uns eine Neurose namens Pflichtgefühl vorgeschrieben hatte. Man konnte Gift darauf nehmen, dass sowohl im Vater als auch in mir ganz andere Gefühle schlummerten, wie bei einer Blechbüchse, auf der Baldrianwurz steht und in der in Wirklichkeit eine mumifizierte Schlange aus einer Vorkriegsapothekenvitrine steckte.
„Auch Herr Kelly wird mir den Rücken kehren, jetzt, wo er seinen zweiten Frühling erlebt, bin ich mit meinen Huzulen das Letzte, woran er denkt.“ Mein Vater biss in seine Scheibe Graubrot, schiefmündig, die Nase gerunzelt. Die bleiche Ziegenkäsescheibe rutschte etwas zur Seiten. „Kelly, dieser Lustmolch.“ Er konnte nicht einsehen, dass der fast gleichaltrige Engländer Augen nicht nur für alte Kutschen, sondern auch für junge Frauen hatte. Beides zusammen passte einfach nicht in sein Konzept vom Altern in Würde. Dabei hatte er selbst mit Anfang vierzig eine 19-jährige zum Altar geführt. Mir hingegen schien es normal, dass man von den Menschen keine Beständigkeit erwarten konnte. Man sollte lieber gar nichts von ihnen erwarten. Auf jeden Fall nichts Gutes. Wenn man dann doch angenehm überrascht wird – ist dem auch nicht zu trauen. Ein anderer Blickwinkel, und schon verwandelt sich das Antlitz der Güte in eine Fratze des konventionellen Anstands, der Beliebigkeit und des Unvermeidlichen, wie auf einer 3-D-Stereo-Postkarte, die mal eine Venus im Pelz, mal eine bucklige Alte zeigt. All das leuchtete Vater nicht ein. Es war so, als hätte Herr Kelly mit seiner Amour fou einen Fächer vor seiner Nase auseinandergeklappt und ihm damit eins übergebraten.
„Und, hast du ihn noch mal im Laden besucht?“, fragte er immer wieder, und jedes Mal gab ich zur Antwort, dass ich da nicht mehr hinginge. „Was macht dein Studium?“, war die nächste Frage, die auch schon wieder das Ende seiner Aufnahmefähigkeit einläutete. Meine Klage über schleppende Erfolge hörte er sich nur noch mit halbem Ohr an. Darüber, dass ich seit Jahren studierte, konnte er nur noch milde lächeln, so wie über das Memoirenbuch eines alternden Sängers.
An einem Wochenende kam Herr Kelly unangekündigt vorbei. Er hatte sich stark einparfümiert, frisch rasiert und trug eine Krawatte, die jugendlich locker um seinen nicht mehr ganz strammen Hals gebunden war. Eine winzige, dreizackige Spur eingetrockneten Bluts zierte seinen Hals. Als er sich mit einem Glas Cognac im Sessel zurücklehnte, sah ich sie. Eine Amsel hatte mit ihrer Kralle nach einem Körnchen gelangt, das Herrn Kelly hinter den Hemdkragen gerollt war – nur so ließ sich diese Wunde erklären.
„Schön, Sie gesund und munter zu sehen“, sagte Herr Kelly, dem Vater zuprostend.
„Es ging mir gar nicht gut in letzter Zeit“, antwortete dieser.
„Sie sehen aber frisch aus, wie aus dem Ei gepellt, gehen Sie heute Abend aus?“
„Ich gehe nie aus, die Menschen kommen zu mir.“
„Eine sehr kluge Einstellung, die noch dazu funktioniert“, sagte Herr Kelly, „so kann man alt werden.“
„Bin ich auch“, sagte mein Vater verdrießlich und winkte Frau Strunk zu, sie solle bitte das Knoblauchbrot mit Streukäse in den Ofen schieben.
„Für mich bitte ohne Knoblauch“, rief ihr Herr Kelly hinterher.


© 2016 C.H. Beck, München

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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