Leseprobe:
"Ab und zu regte sie ihn sogar zum Nachdenken an. Natürlich war sie ihm nicht ebenbürtig, seriös konnte man mit ihr über Dinge nicht diskutieren, aber ihre Gedanken blieben bei ihm hängen. Als er ihr bei Gelegenheit seine gründlich überlegte und fundierte Meinung über die Schwachstellen der Demokratie schilderte, und sie mit ihm nicht einverstanden war, spürte er kurz danach wieder den alten Überdruss, den die uniformen Meinungen der nachplappernden Meute in ihm auslösten und ihn eigentlich in seinen antidemokratischen Einstellungen nur bestärkten. Auf Missverständnis zu stoßen, war also für ihn nichts Neues, er rechnete damit und hatte sein Gefühl der Überlegenheit einsatzbereit, was aber diesmal schon neu war, war ihre Begründung. Sie meinte, die meisten Leute können nicht wirklich singen, es ist eher außergewöhnlich, auf jemanden zu stoßen, der ein Lied vorsingen kann und im Stande ist, jeden Ton sicher zu treffen. Die Menge, hingegen, schafft das immer. Nehmen wir als Beispiel ein Fußballstadion, da kann man ruhig von einer Meute reden, aber gesungen wird immer richtig, ein große Gruppe singt nie eine falsche Melodie. Daraufhin konnte Lipitsch nur gezwungen lachen und gezwungen über ihre Fähigkeiten, einen argumentativen Diskurs zu führen, spotten. (Dadurch wurde ihr klar, dass sie ihn in die Ecke getrieben hatte, und [sie] ließ großzügig los. Sie wusste, aus Erfahrung leider, dass, sobald sich eine Frau überlegen fühlt, jeder Mann verjagt wird.)"
(Seite 107)
© 2019 Otto Müller Verlag, Salzburg