Meine Kindheit verging – subjektiv gesehen – in einer heilen Welt. Aber es hatte bis kurz vor meiner Geburt in Steyr ein Außenlager des KZ Mauthausen gegeben, man hatte die Kazettler auch in der Stadt selbst arbeiten gesehen. Im Krematorium in Steyr wurden Leichen aus Mauthausen verbrannt, wenn die Öfen dort überlastet gewesen waren. Heute weiß ich, dass nicht gar so wenige Steyrer davon wussten. Heute weiß ich, dass anno 38 viele Sozialdemokraten im bis dahin "roten Steyr" zu den Nazis übergelaufen und in meinem Geburtsjahr 1945, als wäre nichts gewesen, zu den Roten zurückgekehrt waren. (...) Die Schuldigen von damals lebten zu Zeiten meiner Kindheit ebenso in der Stadt wie jene, die nur zugeschaut hatten. Und jene wenigen, die sich dagegen gewehrt hatten, waren – heute weiß ich es – in diesen meinen Kindheitsjahren nicht sehr angesehen, nicht sehr beliebt. Eher als das Kind einer bestimmten Familie war ich, hatte ich später oft das Gefühl, das Kind einer bestimmten Zeit, nämlich der Nachkriegszeit. (S. 19)
Das Leben erfüllt sich im Diesseits. Erfüllt es sich nicht hier, dann nie und nirgends. Mir gefällt der Gedanke, wieder Staub zu werden. Noch besser gefällt mir der Gedanke, dass, was übrig bleibt von mir, einen von den Bäumen, die ich sehr liebe, mit ernähren könnte. Da solche Bäume auf unseren Friedhöfen nicht wachsen, auch nicht gestattet sind, da man sich andererseits hierzulande auf Friedhöfen bestatten lassen muss, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass dereinst solches geschieht, doch der Gedanke ist schön für mich. Aber: Jetzt will ich noch nicht sterben! Lebenssatt bin ich noch nicht. Mancher Dinge bin ich schon lange überdrüssig, aber lebenssatt bin ich noch lange nicht. (S. 52)
Das Wasser der Steyr ist eiskalt, es kommt aus dem Gebirge, vielleicht erreicht es im August nach langer Hitzeperiode einmal eine Temperatur von zwanzig Grad. Jetzt ist es Juni, dreizehn oder vierzehn Grad, mehr nicht.
Er ist kein Kind mehr, bestimmt nicht. Erwachsen ist er auch nicht, noch lange nicht. Was ist er dann? Ein Halbwüchsiger, könnte man sagen. Einer von diesen Halbstarken, sagt man. So fühlt er sich aber nicht.
Teddy, sein Freund, steht schon bis zu den Hüften im Wasser.
"Wie kalt?"
Teddy deutet mit Daumen und Zeigefinger: drei Zentimeter.
Die beiden Mädchen lachen. (85)
Er sagt, er hätte ihr ein ... wie soll er's sagen? ... ein freudvolleres Leben gewünscht. Man muss es nehmen, wie's kommt, ich bin eh zufrieden.
Dass sie vielleicht nicht immer mit allem hätte zufrieden sein sollen, das sagt er nicht. Sie reden eine halbe Stunde lang – und sagen nun nicht mehr viel, was sie nicht oft gesagt haben.
Sie will natürlich auch von ihrem anderen Sohn reden: Wie wird's dem Hans gehen?
Er sagt: Dem geht's gut. Das weiß ich, wir telefonieren ja hin und wieder. Dem Hans geht's gut, der kommt schon durch.
Wieso hat er denn so weit fort müssen!
Ja, wenn man das so genau wüsst.
Die Pausen werden länger, dann gibt es, so sieht es aus, nichts mehr zu sagen. (...)
Ein paar Minuten später kommen die Leichenbestatter. (S. 120)
© 2008, Otto Müller Verlag, Salzburg.