Leseprobe (S. 122-124):
Optional
"Nach dem Mittagsschlaf bin ich so lange im Wald dahinspaziert, bis es schließlich Zeit geworden war, ins Stift zurückzukehren. Aber merkwürdigerweise bin ich plötzlich vom Weg abgebogen – erfüllt wohl vom Gedanken, eine Abkürzung zu nehmen – und auf eine Lichtung zugesteuert. Danach bin ich einfach weiter und weiter nach unten gegangen, natürlich in der Annahme, wieder auf den zum Stift führenden Weg zu treffen. Weil jedoch das Dickicht immer mehr zugenommen hat, habe ich schneller zu gehen und dann auch sporadisch zu laufen angefangen. Und kaum hatte ich einmal zurückgespäht, war ich anschließend noch ungestümer nach unten geeilt. Aber von dem Punkt an, an welchem es für mich keine Umkehr mehr gab, weil ich meinte, bereits zu weit vom Ausgangspunkt abgekommen zu sein, und es mir zugleich unmöglich schien, mich, was die Richtung meiner Fortbewegung betrifft, geirrt zu haben, fing ich wirklich zu rennen an. Immer aufgeregter fightete ich mich durch das Gestrüpp hindurch, während ich die mir ins Gesicht schlagenden Zweige wie eine Slalomläuferin zur Seite boxte. Bis ich plötzlich und absolut unerwartet an eine Grenze stieß. Vor mir war, soweit ich in beide Richtungen sehen konnte, nichts als stehendes Wasser. Unzählige Male habe ich zum anderen Ufer hinüber gespäht, wie um sicher zu gehen, dass dieses auch tatsächlich existiert. Dann ging ich die paar Schritte hin und her, blieb immer wieder stehen. Drehte mich im Kreis. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, spürte nur, dass die Zeit vorgerückt war, und dass es in einer knappen halben Stunde dunkel sein würde. Da ich ständig links und rechts an den Bäumen vorbei, durch Dickicht hindurch, so schnell und gleichzeitig wie geistesabwesend gehastet war, sah ich, als ich jetzt zurückblickte, nur Sträucher, Unterholz, Bäume und Lichtstrahlen. Da schien es kein Durchkommen zu geben. Schlagartig, und ohne dass ich einen Entschluss dazu gefasst hätte, stürmte ich die nächstbeste Steigung hinauf, kehrte allerdings nach wenigen Metern um, lief ein paar Schritte nach links, drehte mich einmal um die eigene Achse und bahnte mir alsdann einen Weg direkt durch das vor mir aufgetürmte Dickicht. Nachdem ich diesen Dschungel aus widerspenstigem Geäst endlich durchdrungen hatte, stürzte ich und robbte vorübergehend sogar auf dem Erdboden dahin, und eine enorme Angst trieb mich an. Wie ein Pfeil tauchte jetzt der Gedanke auf, dass ich mich durch dieses ziellose Dahinhetzen bloß noch weiter verrennen würde, und im gleichen Atemzug steigerte ich erneut das Tempo und lief dann in alle nur erdenklichen Richtungen gleichzeitig, um schließlich gänzlich die Orientierung zu verlieren. Dabei habe ich geglaubt, mir den Plan der Klosteranlage eingeprägt zu haben. Auf diesem gab es aber nur den Kamp. Und der schien mir doch ein recht kleiner Fluss zu sein. Die Dunkelheit nahm jetzt schlagartig zu, und so jagte ich wie eine Irre durch den Wald. Die Zunge hing mir aus dem Mund und Schweißtropfen rannen mir über das Gesicht. Und dann, urplötzlich, blieb ich wie angewurzelt stehen – die Hände in die Seiten gestemmt und den Oberkörper nach vorne gebeugt, atmete ich heftig und hätte mich beinahe vor Erschöpfung erbrochen."
"War das jetzt die Pointe?"
"Ich war tatsächlich wieder am Ausgangspunkt meiner Odyssee angelangt."
"Das glaubst du wohl selber nicht!"
"Ich scheiß mich an!"
"Alma! Bitte!"
"Wir sind die letzten, die erfahren, was unser Gehirn vorhat, hat Gazzaniga gemeint", sagte Amy.
"Ich bin ganz sicher der letzte, der erfährt, was mein Hirn vorhat", sagte Ulrich.
"Das glaub’ ich dir gern."
"Wir wissen mehr als unser Gehirn", warf daraufhin Alma ein.
"Selber herausgefunden?"
"Wer sonst!"
"Wie ich später erfahren habe, liegt die Klosteranlage an einer Schleife des Kamps, der im nahe gelegenen Ottenstein aufgestaut wird. Der Stausee reicht also fast bis zum Stift. Warum ich aber so plötzlich den Weg verlassen und mich völlig irrwitzig und unbeirrbar auf den stehenden Fluss zu bewegt hatte, finde ich extrem merkwürdig."
"Das klingt fast wie eins dieser Rätsel, du weißt schon, die von den Zen-Meistern der Rinzai-Schule den Schülern aufgegeben wurden, und die mit ihrer Antwort das Leben zum Blühen bringen mussten."
"Das sind doch diese sinnleeren Geschichten, oder?"
"Wir sind ein stehender Fluss."
Sagte Vinzent.
"Ist das jetzt ein Koan?"
"Wohl eher ein Wahrnehmungsfehler."
"Und was bitte soll da blühen?"
"Die Antwort?"
"Aber es gibt doch keine Antwort."
"Das ist eine Illusion."
"Das ist genauso eine Illusion."
"Meistens werfen die Meister ihre Schüler einfach in einen Fluss, um ihnen zu verdeutlichen, was ein Fluss ist."
"Learning by doing."
"Wir könnten uns auch in den Fluss werfen. Was haltet ihr davon?"
"Summer’s almost gone / Almost gone / Yeah, it’s almost gone / Where will be?"
Sang Carl.
"When the summer’s gone."
Sang Alma.
© 2019 Ritter Verlag, Klagenfurt