Leseprobe
Wenger zieht seine Hose an, kratzt an dem eingetrockneten Fleck. Es ist sehr still. Er setzt sich aufs Sofa, der Stapel mit der Post fängt an zu rutschen, die Prospekte gleiten auf den Boden. Wenger sieht zu, versucht nicht, sie aufzuhalten. Obenauf liegt ein kleiner weißer Umschlag mit Handschrift. Wer schreibt denn heutzutage noch Briefe? Wenger nimmt ihn, dreht ihn um. Es steht kein Absender drauf, adressiert ist er an Albert Trattner. Das ist der Kerl, der vor ihm hier gewohnt hat. Wenger sieht sich um, als würde er beobachtet, reißt den Brief dann auf. Das Ratschen ist laut wie ein Vorwurf, und Wenger weiß, dass er nicht tun sollte, was er da tut. Die Post eines anderen zu lesen sollte man sich zweimal überlegen, man weiß ja nie, was einen da erwartet. Wenger ist so alt, dass ein Brief noch Bedeutung hat für ihn, weil es ein echtes Schriftstück ist, in das jemand Worte eingewebt hat und das Tage gebraucht hat statt Sekunden, um anzukommen. Aber die Neugier siegt über den Respekt. Zwei einzelne Blätter. Die Schrift ist gleichmäßig, leicht nach rechts geneigt, an manchen Stellen seltsam verschoben, als hätte die Hand gezittert. Er sieht ans Ende, es gibt keine Unterschrift. Dann liest er die Zeilen, und ein Gewicht legt sich auf seine Brust, drückt ihm auf die Haut und auf die Rippen, bis er kaum noch Luft bekommt. Er ist zu überrascht, um sich zu schützen. Es zerrt in ihm, genau dort, wo die Menschen ungern hinschauen, weil sie da nicht sehr schön sind. Als er den Brief sinken lässt, kann er vor Erregung nur langsam und flach atmen. Es ist absurd und merkwürdig, vielleicht sogar bedenklich, aber jetzt steht er, sein Schwanz. Jetzt steht er.
(S. 18)
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