Leseprobe
Der König von Lilienfeld hielt den Schalter der Bettlampe jede Nacht zwischen Daumen, Mittel- und Zeigefinger, den hellen Lichtkreis möglichst eng um das Buch vor ihm. Glühbirne und Lampenschirm erwärmten die Seiten und die Finger manchmal derart stark, dass das Papier einen Geruch nach Alleskleber, Leim und etwas undefinierbar Breiigem ausströmte. Sein Reich erstreckte sich bis zu jener Grenze, ab der seine Schwester, deren Bett in Längsrichtung an seines anschloss, genügend Dunkelheit für sich und ihren Schlaf hatte. Solange das gewährleistet war, hielt sie still. Während die Eltern, wenn sie unten in Küche oder Wohnzimmer nicht stritten, stets aufs Neue versuchten, die knarrende Holzstiege sowie den im Kinderzimmer des Lesens Verdächtigen auszutricksen, was ihnen all die Jahre nicht gelang.Bis heute spüre ich selbst als Erwachsener die Rillen des Schalters an der Fingerkuppe. Wenn der Lesende damals schwitzte, wischte er sich den Fingerballen ab, um nur ja nicht abzurutschen, und fühlte stets Schwindel angesichts des Sogs, mit dem ihn die Geschichten wie in Höhlen hineinzogen. So sehnsüchtig war er, so glücklich darin und bedürftig danach.In die Fuchsbauten des nächtlichen Lesens reichte nichts von dem, was untertags in der Schule mit ihm geschah, wie weggeblasen waren Mühe und Qual der nachmittäglichen Hausaufgaben, die Forderungen nach geraden, gleichmäßigen Strichen und Zeichen in den Heften, die Konzentration sowie das Verbot aller Träumereien und Abschweifungen. Der unbewusste Reflex, sich zu verlieren, verließ ihn auch am helllichten Tag nie. Das Narrenkastl, wie seine Eltern diesen Ort liebevoll, manchmal allerdings auch sorgenvoll nannten, blieb jederzeit erreichbar. Auf Sicherheitsabstand hingegen, wie im Lesen, die Querelen der Eltern, ihre Vorwürfe, Stummheiten sowie all die Gegensätzlichkeiten ihrer unterschiedlichen Herkünfte.
(S. 12f)
© 2018 Insel Verlag, Berlin