Leseprobe
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Die achtjährige Lucia, hin und hergerissen zwischen Sensationslust und Panik, wollte am Dienstag darauf Richtung Heldenplatz rennen, weil alle dorthin rannten, blieb aber im Gewühl stecken. Heil, heil, heil …! Sie spürte, daß sie und ihre kleine Familie von der erwarteten Erlösung ausgeschlossen waren, erschrak vor der brüllenden Menge auf der Straße und kam verstört nach Hause. Auch noch am zehnten November wollte sie bei der Nachricht, der Müllnergassentempel brennt, zum Ort des Geschehens laufen, ihre Mutter fing sie an der Tür ab.
Schon am vierzehnten März 1938 war Regina von der Gemeinde Wien entlassen worden, mußte aber ihre Nachfolgerin, der ein versilbertes Hakenkreuz im Ausschnitt baumelte, zwei Wochen lang gratis einschulen. Am selben Tag war das Dienstmädchen weggeblieben, weil ihm nicht zugemutet werden durfte, in einem jüdischen Haushalt zu arbeiten. Gleich darauf hatte sich Fritz ein Untermietzimmer genommen, um nicht wegen Rassenschande angezeigt zu werden, und Mitte Mai war Lucia aus der Volksschule in der Grünentorgasse gejagt und in eine für Judenkinder in der Börsegasse gesteckt worden. Mit ihren Freundinnen lief sie nach dem Unterricht, in dem sie wegen überfüllter Klassenzimmer und mangels qualifizierter Lehrer kaum noch etwas lernten, in den Schlickpark. Ihr Staunen über die Eile, mit der auf jede Bank die Warnung nur für arier gemalt worden war, schön gleichmäßig, mit Schablone. Die Mädchen wichen auf die Straße aus, mußten beim Tempelhüpfen oder Schnur springen aber ständig auf der Hut vor Halbwüchsigen sein, die sie anspuckten und an den Haaren rissen. Im Sommer schließlich wurde Josef Treister aus der Wohnung in der Pappenheimgasse geworfen. Seine Tochter nahm ihn bei sich auf. Er hatte ja niemanden sonst; Arnold, der Apotheker, war inzwischen mit Frau und Kind nach Paris emigriert. Davor hatte er noch Zeit gehabt, den Haushalt aufzulösen; den prächtigen Puppenwagen seiner Tochter Renate sollte Lucia als Abschiedsgeschenk erhalten, aber zu ihrem Bedauern wollte Regina nichts davon wissen.
Und das ist Lucias letzte Erinnerung an ihren Großvater: wie am Abend des neunten September 1939, eine Woche nach dem deutschen Überfall auf Polen, an der Wohnungstür Sturm geläutet wird, Männer in Stiefeln nach Josef Treister fragen, ihn zum Mitkommen auffordern. Wie er einen kleinen Koffer packt und den schweren Wintermantel anzieht. Wie hinter ihm die Tür ins Schloß fällt. Wie sie zum Fenster läuft und ihn im Dämmerlicht zwischen den kräftigen breitschultrigen Männern durch den Hof gehen sieht, klein und gebeugt und mit schleppenden Schritten, bis er im Durchgang des Vorderhauses verschwindet. Mit über tausend anderen, von den Nazibehörden als polnischstämmige staatenlose Juden erkannten Männern wurde er im Wiener Stadion eingeschlossen. Drei oder vier Tage später standen Regina und Lucia in einer langen Schlange davor an, um frische Unterwäsche und warme Kleidung für ihn abzugeben. Es herrschte Redeverbot, wer sich nicht daran hielt, wurde von Uniformierten mit Knüppeln geschlagen. Zusehen müssen, wie es die Mutter trifft, weil sie mit der Frau vor ihnen geflüstert hat, und wissen, daß Schreien oder Weinen alles nur noch schlimmer macht.
Als sie in der Woche darauf noch einmal Wäsche für den Großvater abgeben wollen, ist er bereits auf Transport gegangen. Einen Monat später ein Telegramm aus Buchenwald, mit der Todesmeldung, ohne Angabe der Todesursache: joseph treister geb 16. 3. 73 heute verstorben einaescherung am 26. 10. 39 krematorium in weimar antrag auf uebersendung der asche auf eigene kosten ist innerhalb 24 stunden an die friedhofsverwaltung in weimar zu richten lagerkommandant buchenwald.
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