Wenn dieses Schütteln von innen kam, wenn die Kehle trockener wurde und das Trinken des lauen Wassers nichts nützte, holte sie die Briefe des Sohnes und des Enkels aus der Lade des Nachtkästchens, wie alle alten Frauen, die Briefe lesen, sie wußte es aus den Filmen im Fernsehen aus jener Zeit, als sie noch besser sehen konnte, sie las es in den Trostgeschichten der Zeitschriften, die neben ihr auf dem leeren Bett lagen, sie wußte es, aber sie nahm die Briefe trotzdem und konnte nicht lachen über sich. Die des berühmten Sohnes ließ sie gebündelt mit dem roten Faden. Nie schrieb er von irgendeiner Frau oder einer Liebe, er konnte offenbar keine finden. Und immer wieder fragte er, warum sie ihm das angetan hätten, damals, ihn als Neunjährigen in die NAPOLA zu schicken, ach warum, ja warum, das war die Zeit damals und eigentlich waren alle stolz darauf, das war doch eine Ehre und eine gute Versorgung für die Zukunft, aber das ist so lange her, und sie wußte keine Gründe mehr, und dann erzählte er von seinen Erfolgen als Professor der Germanistik, nicht weil er sich rühmen, sondern weil er ihr eine Freunde machen wollte, aber von Goethe und Hölderlin und Heine verstand sie nichts. (S. 78)
Die Geschichte unterscheidet nicht zwischen Siegern und Besiegten. Sie torkelt durch die Zeit, hinterläßt die Nagelabdrücke ihrer Schuhe im Staub. Wir sind Vertiefung, Rand oder Zwischenraum. (S. 118)
© 1999, Haymon, Innsbruck.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.