Mein letzter Besuch bei meinem Bruder fand an einem grauen, ruhigen Tag statt, an dem über den Brücken Nebel lag. Ich hatte Angst. Es war nicht die Angst, die Kinder mit einer schlechten Note davon abhält, auf direktem Weg nach Hause zu gehen, oder die Angst, die, wenn man im Dunkeln ein Geräusch hört, das Adrenalin in den Körper jagt und einem die Nackenhaare aufstellt. Sondern die Art von Angst, die einem das Innere einen Wimpernschlag lang schockgefriert, sodass man sich nachher nicht wieder erwärmt. Mein Vater kommentierte die Fahrweise der anderen Autofahrer.
An dem Tag, an dem mein Bruder starb, nahmen sie mich nicht mit. Ich weiß nur noch, dass Mutter seine roten Chucks in der Hand trug, als sie nach Hause kam, und sie ins Regal stellte, vorsichtig, gerade ausgerichtet, so eng nebeneinander, dass sich die beiden Schuhe berührten. Noch im Mantel schloss sie sich im Schlafzimmer ein und kam zwei Tage lang nicht mehr heraus. Vater schlief auf der Couch. Wir waren zerbrochen.
Die Woche darauf fand das Begräbnis statt. Ich war nicht dabei, die Nachbarin passte auf mich auf. Sie saß am Küchentisch und füllte Kreuzworträtsel aus, allerdings so falsch, dass am Ende nichts zusammenpasste. Ich saß auf dem kühlen Boden des Vorraumes, was mir verboten war, denn Mädchen bekommen eine Blasenentzündung, wenn sie auf dem kalten Boden sitzen, saß also auf den Fliesen und strich über die roten Turnschuhe. Beim Betreten des Bodens wären meine Eltern fast über mich gestolpert, meine Mutter schrie und beschimpfte mich, und als ich davonkroch, Wuttränen in den Augen, warf sie mit dem rechten Schuh nach mir und dann mit dem linken, der mich unter dem Auge traf, sodass ich für die nächsten Tage an der Stelle eine bläuliche Schwellung hatte. Die Chucks meines Bruders nahm ich mit in mein Zimmer und zog sie am nächsten Tag in die Schule an und am übernächsten und von da an immer.
Ich hatte vor drei Tagen zum letzten Mal geduscht, und alles, was ich anfasste, kam mir klebrig vor. Die Oberflächen der Dinge schienen grober, die rauen Bezüge der Sitze in den U-Bahnen, die einzelnen Grashalme über dem ausgetrockneten Boden, die Härchen auf Tamaras Haut, alles.
„Tamara, stinke ich?“
„Wahrscheinlich.“
„Stört dich das nicht?“
„Ich riech es gerade nicht. Deo?“
Sie sprühte mich von den Zehen bis unter die Achseln mit Deodorant ein, für einen flüchtigen Moment war es überall auf mir kühl, frisch, doch dann vermischte sich der süßliche Duft mit meinem eigenen Geruch.
„Wie eine Leiche“, sagte ich.
„Was?“ Tamara blinzelte in die Sonne.
„Ich stinke wie eine Leiche.“
„Woher weißt du das?“ Dass Tamara immer alles hinterfragen musste.
„Keine Ahnung. Aber wir müssen was tun.“
„Schwimmen gehen.“
„Schwimmen? Und wo?“
Tamara hob träge den Arm und deutete auf den Springbrunnen, der von einem flachen Wasserbassin umgeben war.
„Das ist nicht dein Ernst, oder?“
„Wasser ist Wasser, nicht? Und in dem schwimmen nicht mal Fische! Ich habe schon in Parkbrunnen gebadet, da bist du noch ganz woanders herumgeschwommen.“
„Schon gut.“
Zögerlich ging ich zum Steinrand des Beckens, drehte den Kopf nach links und rechts. Niemand sah mir zu. Ich stellte meine Füße in das Wasser, es ging mir fast bis zu den Knien, meine Hose sog sich voll, und ich ließ mich einfach hineinrutschen, bis ich darin saß wie die Reichen im Fernsehen im Whirlpool. Ich bekam Gänsehaut, als ich mit offenen Augen untertauchte.
(S. 77 – 80)
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