Der Geltungsstrebige möchte scheinen, was er sein möchte. Er kämpft um den Schein der Wirklichkeit. Der Machtstrebige möchte, dass die anderen ihm durch ihre Unterwerfung zuerkennen, dass er sei, was er sein möchte. Er möchte die Wirklichkeit des Scheins erzwingen. Auch der Psychotiker will es. Er vollzieht diesen Prozess im Monolog. Er verrückt die Welt in seinem Kopfe und ist, der er sein möchte. Der Machtgierige möchte die Welt wirklich verrücken. Und es gibt kein Zwangsmittel, das ihm nicht gerechtfertigt erschiene, dessen er sich nicht bedienen würde. Psychotiker werden im Irrenhaus isoliert. Doch den Machtgierigen eröffnet sich eine große Karriere - wenn sie das Glück haben, dass diese Linie mit bestimmten Entwicklungslinien der Gesellschaft zusammenfällt. Wenn zu der einzigen Idee, die sie haben, zu der von ihrer Besonderheit und ihrer Berufung, eine gesellschaftlich begründete Idee hinzukommt, dann kann damit ihr Schicksal entschieden sein. Man wird den Machtgierigen an der Spitze einer Bewegung sehen, er wird sich entfalten, er wird "die Idee" sagen, und die Idee wird ihm identisch sein mit ihm selbst. Er wird rufen: "Die Idee an die Macht!" und er wird meinen: "Bringt mich an die Macht!" Und wenn es ihm gelungen ist, dann hat die Geschichte wieder einmal Gelegenheit, den Menschen sozusagen ein Kollektivissimum über die Tyrannis zu geben.
Alle Undurchsichtigkeit und Schwerberechenbarkeit der Pläne und Entwürfe der Tyrannen rührt nicht zuletzt daher, dass die Tyrannen, soferne ihre eigene Einsicht und ihre eigenen Entschlüsse in Frage kommen, schlechthin unfähig sind, sich aus ihrem System zu befreien, in dem Sein und Schein hoffnungslos verschränkt sind. Die "Romantik" aller Tyrannis ist eben darin begründet.
Doch bevor wir uns dem Tyrannen zuwenden und den Versuch machen, ihn auf der Grundlage dessen, was wir bisher allgemein über ihn ausgesagt haben, zu charakterisieren, müssen wir diejenigen, die den Tyrannen machen, wir möchten sagen, die verhinderten Tyrannen des Alltags, näher beschreiben. Wir vermögen nicht, die soziologischen Vorraussetzungen der Tyrannis zu geben, doch hat sie auch psychologische Voraussetzungen. Diese müssen erkannt werden, ehe die Grösse und Nichtigkeit der Tyrannis beleuchtet werden können. (S. 45f.)
© 2006, Leykam Buchverlagsgesellschaft, Graz.