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Werner Kofler: Kommentierte Werkausgabe. Herausgegeben von Claudia Dürr, Johann Sonnleitner und Wolfgang Straub.

Leseprobe aus Band 3 – "Kalte Herberge"


In diesem Haus wird es immer wieder zu Polizeieinsätzen gekommen sein, zu größeren wegen Messerattacken oder Fensterstürzen, tatsächlichen und angedrohten, auch in den Nebenhäusern, zu geringfügigeren wegen Körperverletzung, gefährlicher Drohung, schwerer Sachbeschädigung.
– Kalte Herberge, obwohl es oft heiß hergeht, Blutlachen im Innenhof, Blutspuren in der Toreinfahrt, Blutlachen vor dem Haustor, über Tage hinweg, im August, bis ein zufälliger Wetterumschwung mit Gewittern und Regen für Bereinigung gesorgt haben wird; nein, keine Hausmeisterhand, die sich gerührt, keine Verwalterseele der Gebäudeverwaltung, die das Nötigste veranlaßt haben würde.
Es wird sich so abgespielt haben: Spätsommerliche Freitagabendunterhaltung: Schreie einer Frau aus dem Stiegenhaus oder dem Innenhof, nein, Schreie nicht, schreiende Frauen im Hausflur, das wäre nichts Ungewöhnliches, nein, ein mehrmaliges, schwer faßbares, nicht markerschütterndes, auch nicht durch Mark und Bein gehendes, aber doch gellendes AUFSCHREIEN, wie wenn jemand abgestochen würde oder wie von jemandem, der, gerade hinzugekommen, ohnmächtig zusehen oder, zuspätgekommen, eine grausige Entdeckung machen muß; dem unfreiwilligen, genauer: widerwilligen Ohrenzeugen im dritten Stock, hinter der hohen Doppeltüre, bedeutet die Stille nach dem Aufschrei nur, daß es, was auch immer, bereits passiert ist, (und das Dazwischengehen, zumal, wenn Wiener in einem Stiftungshaus wie diesem, Wiener der allerniedrigsten Sorte noch dazu, in ihrer bekannt gemütsmörderischen Art einander näher-, ja: zu nahe kommen, ist seine Sache nicht, nie gewesen.)
Aufschrei, Stille; die Stille danach, wahrscheinlich, die Stille wonach?, von den Betriebsgeräuschen des Alltags abgesehen, zunächst Stille; dann aber: eine Ambulanz fährt vor, bald darauf eine zweite, und eine dem Augenzeugen als Hauspartei gänzlich unbekannte Frau wird auf einer Bahre aus dem Haus getragen und im Rettungswagen untergebracht, ohne daß Art und Grad der Verletzung ersichtlich wären, und kurz hat es den Anschein, als hätte sich dieser Zwischenfall damit erledigt, wäre nicht um die Ecke, außerhalb des Sichtfeldes des Augenzeugen, plötzlich die in höchster Erregung gebrüllte Aufforderung SPRING! SPRING, ODER – zu hören, wie wenn ein Übeltäter einer Geisel am offenen Fenster lautstark bedeutete, sie solle in die Tiefe springen, ansonsten er sie selbst hinunterwürfe (wie es Jahre zuvor, ebenfalls um die Ecke, freilich im Nachbarhaus, und ohne Vorankündigung, spätnachts einmal der Fall – der Fall! – gewesen ist; (SPRING ODER – Wer spricht, zu wem, von wo, wohin? Ruft, aus der Tiefe, aus der Tiefe der Straße, ein Betroffener, ein vom Geschehen, welchem immer, Mitbetroffener nach oben, ruft ein Vater, außer sich vor Zorn und Schaum, dem Sohn zu, oder ein Rivale dem Übeltäter, daß der, wer auch immer, und möglicherweise schon am Fenstersims, bloß springen möge, ansonsten er ihn selbst hinunterschmeißen würde, SPRING, ODER –, wobei er freilich erst einmal wieder hinaufzukommen und die Wohnungstüre, keine hohe Doppeltüre, einzutreten hätte, um den anderen, spränge er nicht endlich, aus dem Fenster zu stürzen.)
Dann plötzlich – Plötzlich – Plötzlich was? Plötzlich bricht – bricht was los?, was herein? Die Hölle, das Unheil? Nein, Hölle nicht, kein Inferno, auch Vorhölle wäre das falsche Wort, aber doch beträchtliche Bewegung plötzlich aus vielen Richtungen, großer Lärm, Lärm von herannahenden Einsatzfahrzeugen, Folgetonhörner von Polizei-, Rettungs- und Feuerwehrwagen, Folgetonlärm, wie wenn später, wenn es zu spät ist, post delictum, post festum in großen Lettern von Mord, Mordalarm, Alarmabteilung, Großeinsatz, Großaufgebot, Belagerung zu lesen sein würde; großer Lärm, Bewegung, plötzliche. In Blaulicht getaucht die Szenerie: kugelsichere Westen und Helme werden ausgegeben und angelegt, Schaulustige versammeln sich diesseits und jenseits des Bahndammes, Telefone klingeln, und alle starren und deuten nach oben, aber nicht, Max Ernst, ERWARTUNG, nein, falsch, nicht Max Ernst, Richard Oelze, ERWARTUNG, allgemein nach oben, zu einem Himmel, von dem nichts zu erwarten ist, sondern zu einem bestimmten Punkt, einem bestimmten Fenster im zweiten Stock um die Ecke, außerhalb des Blickfeldes des Beobachters im dritten Stock, des Augenzeugen wovon? Die Augenzeugen unten, wie die Einsatzkräfte, scheinen es auch nicht zu wissen, aber alle starren gebannt nach oben, im Blaulicht, unter einem öligen Vollmond, dem Mond über Soho, dem Mond über Alabama, im dritten Wiener Gemeindebezirk, im Bezirk Landstraße.

(S. 242-244)

© 2018 Sonderzahl Verlag, Wien

 

 

 

 

 

 

 

 



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