Leseprobe:
Wollte in einer Behandlungspause dann meine Frau einen Ausflug machen, fuhren wir mit unseren besten Freunden tatsächlich zur Hohen Wand. Ragt diese Erhebung mit bloß eintausend Metern Höhe, aber doch steilen Wänden aus Fels markant aus dem Wiener Becken; fuhren wir im Auto die Mautstraße hoch, aßen in einem Gasthaus auf dem Plateau – meine Frau und ich leichte, unsere besten Freunde deftige Speisen. Sprachen nicht über den tragischen Absturz, der sich hier unlängst ereignet hatte: Ein junger Vater, dreijähriges Kind in der Rückentrage, wollte sein zweites, fünfjähriges Kind, durchgerutscht unterm Geländer des Felswegs, noch an der Kleidung schnappen, fiel aber mit ihm hinunter über die Steilwand, schlugen die drei erst einhunderfünfzig Meter unterhalb auf.
Sprachen lieber von der erst unlängst erfolgten, unserer Meinung nach erfolgreich ausgegangenen Stichwahl des Bundespräsidenten: War nämlich der Nationalist, im ersten Wahlgang noch Erster, im zweiten Wahlgang Zweiter geworden – hinter dem Grünen.
Gingen nach dem Essen noch zu einer steil abfallenden Wiese, Startplatz für Drachenflieger, ringsum in der Luft schon einige unterwegs in der Thermik. Setzten uns auf eine Bank, genossen den Fernblick zum zweitürmigen Dom von Wiener Neustadt, fiel uns auf der steil abfallenden Wiese ein unschlüssig wirkender Lufsportler auf: Stand, voll bekleidet mit seinem Gerät, den Deltaflügel aus Polyester wie einen überdimensionalen Rock mit Schößen am Rücken, das Gestell aus Aluminium für die Bauchlage vorn umgeschnallt, vor der Felskante der Hohen Wand, dem blauen Himmel; stand aber starr, nahm keinen Anlauf die Wiese hinunter, die für den Start notwendige Geschwindigkeit zu erreichen. – Ging ich nach einer Weile weiter, wollte zur Aussichtsplattform, meine Frau blieb mit unseren besten Freunden zurück. Sah ich von dort, die Plattform über die Felsen hinausgebaut, tief unten im Wiener Becken den Landeplatz für die Drachenflieger; stand aber, als ich zurückkam, der unschlüssige Luftsportler noch immer, voll bekleidet, keinen Anlauf nehmend, auf der steil abfallenden Wiese. Sah vielleicht in der Felskante vor sich (erinnerte mich an die Klippen in Mallorca beim Wachtturm) auch eine Art Himmelsstiege, eine zum Abstürzen freilich. Höllentreppe wohl eher, fürchtete wohl den bitteren Gang ins Jenseits.
(...)
Bekam meine Frau auf der Heimfahrt nach Wien, obwohl nur leichte Speisen gegessen im Gasthaus auf dem Plateau, im Auto dann Krämpfe im Bauch; hatte zum Glück Tabletten dabei, von unserer Hausärztin verschrieben; bedauerte allerdings, bevor sie wirkten, auf der Rückbank im Auto ihren mangelnden Mut: habe sich überlegt, aber dann doch nicht getraut, am unschlüssigen Luftsportler vorbei die steil abfallende Wiese hinunterzulaufen, von der Felskante der Hohen Wand zu springen, um ihrem Leiden ein Ende zu machen. Werde ja Patienten wie ihr, unheilbar krank, in Österreich nicht ermöglicht, das Ganze abzukürzen in Würde, obwohl in anderen Ländern Sterbehilfe bereits erlaubt, in der Schweiz zum Beispiel, warum nicht bei uns?
(S. 86-89)
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