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Wolfgang Popp: Die Ahnungslosen.

Leseprobe:

 

Schon zweimal haben sie ihren Urlaub verlängert. Tim hat sogar einen gut bezahlten Auftrag abgelehnt. Su hat bei dem Telefonat mitgehört und ihren Ohren nicht getraut. Ihr Herumdruckser-Freund, ihr Wenn-ich-halt-nicht-nein-sagen-kann Tim hat einem Produzenten abgesagt, mit einer Stimme, als hätte die grüne Cargohose gesprochen.
Wie lange sie noch bleiben, wissen sie nicht.
»So lange Klarissas Geschichte geht«, hat Tim einmal gemeint, als Su ihn beim Einschlafen gefragt hat. Als ob Klarissas Geschichte ein Ende hätte. Manchmal streift sie zwar die Gegenwart, sodass Su das Gefühl hat, die erzählte Klarissa, die als Schemen durch die Dunkelheit tanzt, verschwinde jeden Moment in der erzählenden Klarissa, die mit ihnen am Tisch sitzt, dann fällt ihrer Oma aber wieder etwas ein, und sie taucht zurück in die Vergangenheit. Wie ein hungriger Vogel, denkt Su, und wie verstreut liegende Erinnerungskrümel. Und so bleiben sie und hören jeden Abend Klarissas unendliche Geschichte und lassen sie untertags weiter an ihrem Mythenbuch arbeiten. Stunden um Stunden an Tonmaterial gibt es da, Sagen, Märchen und Legenden, erzählt von zahnlosen alten Frauen und opiumsüchtigen Reisbauern, von Taxifahrern in Phnom Penh und von Garnelenverkäuferinnen am Meer. ihre Fotos stecken, versehen mit ihren Namen und dem Datum der Aufzeichnung, in den Hüllen von Musikkassetten, und die liegen unsortiert in zwei großen Bambuskörben, und alle ein oder zwei Tage zieht Klarissa, wie bei einer Lottoziehung ohne hinzusehen, eine neue heraus.
Su und Tim haben sich Räder gemietet und fahren jeden Tag zu den Ruinen. Zu den Steinreliefs mit den grausamen Schlachten und den prächtigen Thronsälen, in denen sich Prinzen in Tänzerinnen verlieben, während zwischen und über deren Köpfen das Schicksal in Gestalt von Göttern und Dämonen schwebt, und der menschliche Wille deshalb nur das kleine Eine ist, und das, was kommt und dein Leben verändert, das große Andere. Und das kann sirren wie eine Tigermücke oder grün sein wie Cargohosen.
Oder klingen wie Klarissa, wenn sie erzählt. Heute beginnt sie in einer gar nicht fernen Vergangenheit, mit einem Tag, der kein Jahr alt ist, lässt sich zurückkippen in ihre Jugend, schaukelt nach Laos, dann weiter nach China im Krieg und ist plötzlich zurück in der Gegenwart, zumindest fast.
»An jenem Abend«, sagt Klarissa, »bin ich früher als sonst schlafen gegangen, weil am nächsten Tag meine Enkelin kommen würde, und auf die wollte ich unbedingt einen ausgeschlafenen Eindruck machen.«
Su sieht Klarissa an, die sieht zurück, hin und her schwingt der Blick wie das Pendel einer großen Uhr, aber da kommt nichts mehr, Klarissa hat den Punkt gesetzt, von dem Su geglaubt hat, er komme nie, aber anders als erwartet, atmet Su nicht auf in diesem Moment, weil sie merkt, dass es da nichts mehr zu atmen gibt, weil die Luft stillsteht und das Zirpen der Grillen und der Duft der Papayas.

Auf der Fahrt zum Flughafen wundert sich Su, wie still Tim ist. Auch beim Aussteigen sagt er kein Wort, nicht als er ihren Rucksack auf die linke Schulter und seine Tasche in die rechte Hand nimmt und genauso wenig, als er den Kofferraum von Klarissas altem Toyota zuwirft. Wie ferngesteuert geht er in die Abflughalle, sieht hinauf zur Anzeigetafel, stellt sich zum Einchecken an, gibt der Schalterbeamtin die Pässe und hebt das Gepäck aufs Förderband. Er nimmt die Boarding-Pässe entgegen und dann gehen sie zu Klarissa, um sich zu verabschieden, nebeneinander gehen sie her, da merkt Su auf einmal, wie Tim immer langsamer wird und dabei in sich zusammensackt. Und als sie schließlich vor Klarissa stehen, bricht er in Tränen aus, wie Su noch nie einen Menschen weinen sah. Es schüttelt ihn, dass er kaum mehr Luft bekommt und die Leute sich nach ihm umdrehen. Klarissa ist von der Situation völlig überfordert. Sie steht mit erhobenen Armen vor Tim wie vor einem heißen Topf, von dem sie nicht weiß, wie sie ihn halten soll, probiert es rechts, links, gibt es schließlich auf und steckt ihm lieber eine Handvoll Taschentücher zu. Tim heult, mittlerweile von der halben Abflughalle wie ein Naturwunder beobachtet, ein Taschentuch nach dem anderen voll und stopft sie in seine Hosentaschen. dann wird zum Glück ihr Flug aufgerufen, sie fallen sich zu dritt in die Arme, lassen sich schütteln im Takt von Tims Abschiedsschmerz. Su zählt mit, und als sie bei zehn ist, löst sie ihren kleinen Kreis auf, küsst Klarissa noch ein letztes Mal auf die Wange und zieht Tim zur Passkontrolle.

(S. 202 – 204)

© 2018 Edition Atelier, Wien

 

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