Erzählungen.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2017.
Geb., 172 Seiten, Euro 19,90.
ISBN 978-3-218-01081-8.
Autorin
Leseprobe
Seit 2009 veröffentlicht Renate Silberer mit einer Reihe von Auszeichnungen gewürdigte Lyrik und Prosa. Jetzt ist bei Kremayr & Scheriau ihr erster Erzählband erschienen. Er enthält elf Erzählungen, teilweise überarbeitetete Fassungen von Texten, die bereits in den Literaturzeitschriften "Die Rampe" oder "kolik" erschienen sind. Das Motiv des Covers, das an ein Kaleidoskop oder an ins Wasser gefallene Glasscherben denken lässt, wird vor jedem der Abschnitte neu aufgenommen. So wird graphisch eine Einheit im Stückwerk konstruiert, die sich auch in den Texten durch wiederholt auftretende Figuren und die Art des sprachlichen Zugriffs auf die Welt herstellt.
Die Erzählungen haben zwischen zwölf und 14 Druckseiten, unterschiedliche Erzähler und behandeln thematisch Fragen, die vermutlich viele Menschen bewegen. Es geht um Emigration und Herkunft, Familien- und Landesgeschichte, Erinnerung und Albtraum, Beziehungen und sexuelle Orientierung, Schwangerschaft, Adoleszenz, Verlust eines Kindes.
"Kein Satz gelingt mir.", heißt es in "Vor dem Verschwinden". Renate Silberers Erzählerinnen sind durchwegs selbstkritisch und sprachbewusst. Ihre Verfahrensweisen sind vielfältig, wobei ihnen eine romantische Tendenz gemeinsam ist, die sich im Aufbrechen der Grenze zwischen Lyrik und Poesie ausdrückt, dem hohen Stellenwert von Phantasie und (Tag-)Traum und der Gebrochenheit des Subjekts, die bis zur Spaltung gehen kann. Das kann für LeserInnen anstrengend erscheinen, ist es aber im Fall von "Das Wetter hat viele Haare" nicht wirklich. Der Band ist durchwegs gut lesbar und die Anordnung in kleinen Portionen erleichtert den Umgang mit den sperrigeren Abschnitten.
Durchaus im Sinne des Zeitgeistes verschwimmen Grenzen. Etwa in der Titelgeschichte, die einen Besuch Konrads mit seinen Töchtern bei den Eltern schildert. Die genaue, beinahe naturalistische Beschreibung der Situation beginnt sich mit Erinnerungen zu vermischen und ein Spiel von Vergangenheit und Gegenwart nimmt seinen Lauf. Besonders in diesem Text ist Silberers Umgang mit Intermedialität auffallend. Lieder, Tagebuch und Fernsehen werden gekonnt eingearbeitet.
Zwischen den elf Erzählungen finden sich Texte, die als "Momente 1" bis "Momente 10" durchnummeriert sind, doch im Inhaltsverzeichnis nicht aufscheinen. Warum das so ist, bleibt ein Rätsel, handelt es sich doch um unprätentiöse, aber aussagekräftige Prosastücke, deren Lektüre ein Gewinn ist. In "Momente 2" liest man: "Es gilt nach etwas zu suchen, das ihm Halt gibt, Bedeutung." Diese Suchbewegung ist dem ganzen Band eigen. Dabei wird kein Finden bejubelt. Allein die erfundenen Geschichten geben doch etwas Halt.
Gespannt wartet man nach der Lektüre des Debutbands darauf, ob sich Renate Silberer an einen längeren Prosatext macht, er könnte interessant werden.
Helmut Sturm
30. Oktober 2017
Originalbeitrag.
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