Sie gewöhnte sich an, alle Besorgungen am Heimweg von der Arbeit zu erledigen. Brachte alle Einkäufe gleich mit, um nur einmal durchs Haus huschen zu müssen. Oben angelangt, sperrte sie zu und klemmte einen Sessel liegend zwischen Wohnungstür und Vorzimmerwand. So fühlte sie sich sicherer, auch wenn sie darüberklettern mußte. Oft ging sie nicht mehr in die Küche, packte eher etwas von einem Take-away aus, das sie auf den Knien vor dem Fernseher aß.
Die nun fast ständig geschlossene Küchentür verschaffte ihr etwas Abstand vom Fenster, weil sie nicht mit jedem Blick daran streifte, nicht jede Spiegelung oder Lichtänderung interpretieren konnte. Doch war es hinter der Tür spürbar vorhanden. Besonders abends ging sie daher nur mit Überwindung an der Küchentür vorbei, als könnten Blicke das grobe Türblatt durchdringen und sie ertappen. (S. 37f.)
Ihr Grab brauchte ihre Pflege nicht mehr.
Jemand war hier gewesen und hatte ihr Vasengesteck zusammen mit dem überholten Weihnachtsschmuck entfernt, das alte Laub bereits aus dem Rasen gerecht, eine Kerze angezündet und Stiefmütterchen in die Blumenwanne und sogar in die Vase gesteckt. Leuchtend gelbe Plastik-Stiefmütterchen. Eine hohle, alles verschlingende Leere tat sich in Emilys Innerem auf. Eine Weile stand sie wie betäubt, rätselte, wer sich hier zu schaffen gemacht haben könnte an dieser Stätte, die sie so eifersüchtig hütete. Alles andere waren nur Gräber, aber dieses hier war ihre Familie, ihr persönlicher seelischer Besitz, und den ließ sie sich von niemandem streitig machen. Selbst wenn sie nur drei- oder viermal im Jahr hierher kam. (S. 118)
(c) 1998, Passagen, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.