Roman.
Wien: Edition Atelier 2020.
296 Seiten; Hardcover; Euro 24,00.
ISBN 978-3-99065-026-4.
Autor
Leseprobe
Klaus ist am Rande eines Oberkärntner Dorfes aufgewachsen und leidet an epileptischen Anfällen. Aufgrund seines unerschütterlichen Optimismus blickt er dennoch zuversichtlich in die Zukunft, zählt er doch zu jener Sorte Mensch, die weiß, was sie will, was sie tut und warum sie es tut. Seinem besten Freund Albert imponiert das, weil er selbst nicht so ist, sich aber gern in der Nähe solcher Menschen aufhält, damit "etwas von ihren Qualitäten" auf ihn abfärbt.
Klaus setzt sich mit seiner Epilepsie auseinander, liest darüber "Tonnen an Material" und nimmt an Selbsthilfegruppen teil, haben doch diese Anfälle, die Sekunden, genauso aber eine halbe Minute dauern können, "Absencen" zur Folge. In dieser Zeit spielen die Nerven im Gehirn verrückt. Das hält ihn allerdings nicht davon ab, nach Wien zu gehen.
Während Klaus Bildhauerei studiert, will Albert Restaurator werden und sich auf aktuelle Kunst spezialisieren. Klaus ist daran interessiert, von "alten Meistern" zu lernen. Hätte er viel Geld, würde er die Mona Lisa vor den Touristenströmen retten. Im guten Zugang zu sich selbst sieht er den wichtigsten Impetus künstlerischer Auseinandersetzung.
Klaus stellt Plastiken her. Bearbeitet er einen Marmor-, Granit- oder Holzblock, hämmert er jedoch so lange, bis nichts mehr zu sehen ist. Er macht diese Blöcke regelrecht fertig. Das hat weniger damit zu tun, dass er mit seinen Arbeiten zu einem Diskurs anstoßen, verstören oder sprachlos machen will, sondern damit, dass er sein Gehirn krank werden hat lassen und die Möglichkeit eines "gewöhnlichen Lebens" damit ausradiert hat. Schuld ist eine genetische Disposition, die im Zusammenwirken mit dem Stress der bevorstehenden Diplomprüfung und den epileptischen Anfällen den Ausbruch von Schizophrenie begünstigt.
Klaus fühlt sich plötzlich von "Kuttenträgern" verfolgt und entspricht damit der klischeehaften Annahme, dass "Künstlerinnen und Künstler halt doch irgendwie komisch drauf" seien. Er glaubt, ein "getarnter Priester" habe ihm, als Bub auf Romreise mit den Eltern, in der Sixtinischen Kapelle eine Wanze eingepflanzt, die jetzt aktiviert worden sei, um an sein Geld und seinen Besitz zu gelangen.
Albert versucht, sich das Ganze als Performance zu erklären, die Klaus helfen soll, den Stress zu bewältigen. Trotzdem nimmt er seinen besten Freund, der sinnloses Zeug daherredet und den Eindruck erweckt, ein "fehlerhafter Klon" zu sein, als völlig verwirrt wahr, während dessen Schwester Martha meint, ihr Bruder würde einen ganz bestimmten Typus Mensch kopieren, sich "in eine lebendige Sprachmaske" hineinversetzen.
Weil er nicht weiß, was im Kopf seines Künstlerfreundes vorgeht, den seine Kameraden aus der Schulzeit ohnehin für "nicht ganz dicht, ja, schwul" halten, ist Albert ratlos und zieht sich zurück. Klaus, der schließlich in die "Geschlossene nach Villach" kommt, fühlt sich gegen die Verschwörung des globalen Netzwerks dementsprechend allein gelassen, baut er doch ganz auf Albert, mit dem er es gemeinsam schaffen will. Den schmerzt zwar das Loch, das Klaus hinterlassen hat und er gibt sich Schuld an dessen Zustand, hält sich aber, "um wieder zu Luft zu kommen", von ihm fern. Martha macht ihm deswegen Vorwürfe, er sei "zu feige und zu faul", dorthin zurückzukehren, wo seine Anwesenheit etwas bewirken könnte. Doch Albert tut sich einfach schwer, jenen Schritt hin zu einem anderen Menschen zu setzen, der in so einer Situation notwendig wäre.
Als sein jüngerer Bruder einen Selbstmordversuch unternimmt, kommt von seiner Seite gleichfalls kein Hilfsangebot, weil ihm Leander menschlich und sozial so wenig bedeutet. Lieber stürzt er sich in eine einvernehmlich kinderlose Ehe mit Elisabeth, macht seinen langweiligen Nebenjob als Aufseher in einem zeitgenössischen Museum zu seiner Hauptbeschäftigung, hört auf zu studieren und gerät am ersten Hochzeitstag in einen Autounfall, der seiner Frau eine Gesichtsnarbe einbringt.
Danach haben sie einander nichts "Tiefgreifendes" mehr zu sagen, spielen ein gemeinsames Leben nur mehr vor. Während Elisabeth mit ihren Freundinnen ins Theater flüchtet, sieht Albert zuhause Filme. Sein ganzer Ehrgeiz ist verflogen, bald verliert er auch seinen Job, trennt sich von seiner Frau und zieht nach Krems, wo er in der Kunsthalle arbeiten und ein Praktikum in der Restaurierungsabteilung machen kann. Dem Gedanken, dass irgendetwas in seinem Leben falsch gelaufen sei, entkommt er trotzdem nicht. Denn er hat plötzlich niemanden mehr, an dem er sich "festhalten" kann und sein Körper reagiert auf jede kleinste psychische Herausforderung. Er merkt, wie unglaublich schwer es ist, glücklich zu sein. Mit dem Rezept, das es gibt, um die Schwierigkeiten des Miteinander in einer Krise zu meistern, macht er sich nämlich erst viel später vertraut. "Tiefer graben", heißt es, um die Oberfläche zu überwinden, und erkennen, dass man sich zuerst einmal selbst Halt geben muss, um jemand anderen auffangen zu können.
Wie Albert auf seiner bewegenden Sinnsuche mit Umwegen zu dieser Erkenntnis vordringt, schildert der Autor abwechslungsreich und überzeugend. In der Mehrzahl der 24 Kapitel lässt er ihn aus der Ich-Perspektive berichten. Einzelne Abschnitte sind als Briefe angelegt, unter anderem von Klaus bzw. Martha an Albert. Zwei kleine Kapitel füllen kurze, wahrscheinlich als Telefonate geführte Gespräche zwischen Albert und Marco bzw. Albert und seinem Bruder Leander. Des weiteren gibt es eine "Ouvertüre", ein "Interludium" und ein "Da Capo al fine". Alle Teile zusammen zeugen von großer Authentizität und Empathie.
Hauptthema sind die Optionen und Grenzen von Freundschaft. Dieses baut der vom einzigartigen Sound Gert Jonkes beeindruckte Norbert Kröll auf rhythmisch-musikalische, sprachspielerische Weise um seine beiden Protagonisten. Dabei lotet er in permanenter Selbstbefragung die Brüchigkeit des In-Beziehung-Stehens aus. Und er führt sehr plastisch und kreativ vor Augen, "dass das Leben leider keine schöne Geschichte" ist, aber zumindest auf ein versöhnliches Ende zulaufen kann, wenn jemand den Mut fasst, den besten Freund auffangen und sein Gewicht stemmen zu wollen, weil endlich die Überzeugung da ist, "beide tragen" zu können.
Manchmal bedarf es einiger Extrarunden, bis man wieder auf die Bahn des gesunden Lebens gelangt.
Andreas Tiefenbacher
8. Juni 2020
Originalbeitrag.
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