"Drehen Sie sich nicht um", sagte der Mann hinter ihm.
"Wieso? Erschießen Sie mich sonst?"
"Ich bitte Sie! Hier im Kunsthistorischen Museum? Ich bin zwar Jurist, aber noch lange kein Banause. Nein, ich möchte, daß Sie sich auf das Gemälde konzentrieren und mir sagen, was Sie sehen."
"Einen Tintoretto."
"Was sehen Sie wirklich?"
"Ein relativ dunkles Bild."
"Wissen Sie, was ich sehe?" fragte der Mann, der Grünberg sein mußte. "Ich sehe ein Loch, das von einem gerahmten Bild verdeckt wird."
"Ein Loch?"
"Überall hier sind Löcher in den Wänden, kleine, große, manche gehen tief ins Mauerwerk, schlängeln sich nach oben, nach unten, zur Seite, führen weiß Gott wohin, andere messen bloß ein paar Zentimeter. Die Welt ist voll von solchen Löchern. Praktisch jede Wand hat ein derartiges Loch. Darum auch die Bilder, nicht nur in den Museen, welche aber naturgemäß zu den löcherreichsten Orten gehören."
"Was soll das?" fragte Lukastik. "Wollen Sie mich verarschen?"
"Ich meine es ernst. Und würde es Ihnen auch gerne beweisen. Aber Sie verstehen sicher, daß es mir unmöglich ist, jetzt diesen Tintoretto von der Wand zu nehmen, um Ihnen das dahinterliegende Loch zu zeigen. Es ist eine komische kleine Begabung, daß ich diese Löcher sehen kann. Na, sagen wir lieber, ich spüre sie. Schließlich verfüge ich über keinen Röntgenblick oder so. Ich könnte Ihnen auch nicht genau erklären, warum es diese Löcher gibt oder wie sie entstehen. Ich weiß nur, wie wichtig es ist, daß man sie abdeckt. Die Welt wäre sonst eine durchlässige, eine instabile. Vielleicht würde durch unsere Räume ständig ein unangenehmer Wind wehen. Oder ein Gestank. Oder ein Dröhnen. Vielleicht wäre es noch schlimmer. Vielleicht führen diese Löcher ins Jenseits, sodaß ein ständiges Hin und Her zwischen unserer und jener Welt stattfinden würde. Was ja niemand wollen kann. Die Konkurrenz in unserer Gesellschaft ist groß genug, da braucht es nicht noch einiger Toter, die rasch mal zu uns herüberschauen, um uns zu belehren. Und was denen sonst noch alles einfällt."
(S. 263f)
© 2008 Piper, München-Zürich.