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Leseprobe: Renate Welsh - "Die schöne Aussicht."

Warum Ferdinand? Warum Marianne? Warum nicht ich?
Sie hatte nicht die Pest, sie war die Pest. Sie krallte die Nägel in ihre Handflächen, wunderte sich, daß Blut kam, daß sie den Schmerz fühlte. Eigentlich gab es sie doch nicht, durfte sie nicht geben. Da standen sie alle, Josef, Ferdinand, Frau Michalek, Gusti, Marianne, alle mit Gesichtern, die sich langsam auflösten in leere, helle Ovale; wenn Rosa es nicht schaffte, sich genau zu erinnern an ihre Augen, Nasen, Münder, würden sie bald ganz verschwinden. Sie drückte beide Handflächen gegen die Schläfen so fest sie konnte, bis der Schmerz von außen das Chaos innen übertönte.
Es half nicht, wenn sie sich sagte, daß ihre Trauer um Marianne reichlich spät kam, daß sie jahrelang nichts von ihr gewußt, kaum an sie gedacht hatte. Etwas Dichtes, Dunkles, Formloses lag zwischen ihr und der Welt, nahm den Dingen die Farben, den Tönen den Glanz. Sie stellte nicht einmal das Radio an, wenn sie heimkam, die Musik drang doch nicht zu ihr durch, blieb Geräusch. Ihn ihrem Straßenbahnwagen funktionierte sie wie sonst, nur die Pausen waren schwierig, wenn die Kolleginnen und Kollegen mit Kaffeebechern in den Händen dastanden und plauderten und immer noch versuchten, sie einzubeziehen. Anna wollte sie überreden, gemeinsam mit ihr Lotte zu besuchen, einen Ausflug zu machen, zum Grab der Eltern zu gehen. Rosa war erleichtert, als die Schwester ihre Bemühungen aufgab, und gleichzeitig enttäuscht.

Viel später würde sie sich an den Tag auf der Rennbahn erinnern als den Tag, an dem sie ins normale Leben zurückgekehrt war. Sie hörte wieder Radio, ging mit Anna, manchmal mit einer verwitweten Kollegin in die Volksoper, gelegentlich zum Heurigen und während der Saison zu den Pferderennen, sie machte lange Spaziergänge mit Lotte, meist wenn Karl Dienst hatte, als Lotte eine Tochter bekam und bald darauf wieder schwanger wurde, schob Rosa den Kinderwagen und freute sich, wenn die kleine Gerti sie anlachte. Sie nahm wieder teil an den Gesprächen in der Remise. Wenn Anna einen neuen Versuch machte, sie zu einem Besuch auf dem Friedhof zu überreden, wechselte sie das Thema, aber sie erkundigte sich immer, was Anna für die Grabblumen bezahlt hatte, und legte beim Weggehen genau die Hälfte des Betrags auf den Tisch. Eines Tages lag ein Brief von einem Notar auf der Fußmatte, als Rosa heimkam, da erfuhr sie, daß die Baufirma jetzt für das elterliche Gasthaus bezahlt habe und die Verlassenschaft abgewickelt sei, sie solle unter Mitnahme eines Personalausweises in die Kanzlei kommen. Hilde war vor ihr da, sehr elegant sah sie aus und reichte ihr die Fingerspitzen in weißen Handschuhen, Anna flüsterte sie zu, sie werde ihr die Adresse ihres Friseurs geben, worauf Anna schallend zu lachen begann. Rosa legte das Geld auf ein Sparbuch und rührte erst Jahre später einen Teil davon an, als sie sich ein Grab auf dem Neustifter Friedhof kaufte. (S. 183 ff)

© 2005, Deutscher Taschenbuch Verlag, München.

 

 

 

 

 

 

 

 

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