Wie man eine Geschichte erzählt.
Drei Wochen nach dem Gespräch, von dem ich nun berichten werde, sollte Mendel sterben. Natürlich konnte ich das damals nicht wissen, noch weniger er selbst, obwohl er zu jener Zeit schon sehr geschwächt war. Aber noch immer hatte er seine äußerste Konzentration auf das Betrachten menschlichen Verhaltens gelenkt, überschüttete er uns, auf dem Holzplatz, beim Abladen von Baumstämmen oder auf dem Marsch, mit glühenden Schmähungen, Flüchen, Verherrlichungen der Schönheit, mit seinen zu Versen geschmiedeten düsteren Prophezeihungen, Wortergüssen, mit seinem Stolz. - Einmal, als ihn einer unserer Wächter mit einem Kübel Wasser übergoß, weil er stehend eingenickt war, beim Schichten von Holz, vor Müdigkeit und Schwäche, und die Gestiefelten schallend lachten (es fror an diesem Tag, die Posten waren in Schafpelze gekleidet, hatten von Sattheit und Wärme rote Wangen), da streckte sich Mendel, sein nasses graues Haar klebte in der Stirn, die Augen lugten scharf darunter hervor, nicht hassend oder klagend, sondern gespannt. Was tut dieser Mensch, fragten die Augen.
An jedem zweiten Sonntagnachmittag (wir hatten nur zwei Ruhetage im Monat) pflegte Mendel Geschichten zu erzählen. In der Essenbaracke versammelten sie sich. Juden aus Warschau, Sosnowiec und Krakau, fasziniert vom Wort. Das Wort hatte magische Kräfte, es zauberte eine reichgedeckte Sabbattafel herbei, die Lieblichkeit eines jüdischen Mädchens, Duft von süßem Palästinawein und Rosinenkuchen, verlorene schöne Welt.
(S. 7f)
© 2005, Wallstein Verlag, Göttingen.