Die tiefe Provinz ist aus der Welt gefallen wie in einen tiefen Spalt, um den man besser einen weiten Bogen macht. Der Abgrund ist unermeßlich, die Dummheit der Menschen unbeschreiblich. Obschon der Schädelvermesser Doktor Weißbach Ende des 19. Jahrhunderts festgestellt hat, die Böhmen hätten unter allen österreichischen Völkern das größte und schwerste Gehirn. Jedoch: der Hinterteil des Schädels, wo die Pfeil- und Lambdanaht zusammenkommen, weise bei den böhmischen Schädeln manchmal eine bedeutende Depression auf.
Die tiefe Provinz kannte keine Straßen, die diese Bezeichnung verdient hätten, sondern bestenfalls breite Feldwege, die bei Regen unpassierbar waren. Wer nach Polna reisen wollte, und das waren im April 1899 ungewöhnlich viele Menschen, mehr als all die Jahre davor zusammengerechnet, der mußte entweder in Iglau den Zug verlassen und ein Fuhrwerk anmieten, mit dem er die siebzehn Kilometer lange Strecke entlang des Westhangs der Böhmisch-Mährischen Höhe hinter sich bringen konnte, einigermaßen schönes Wetter vorausgesetzt, oder er beendete die Bahnfahrt an der Station Polna-Steken und nahm einen Fußmarsch von etwa zwei Stunden auf sich. Wurde der Wanderer allerdings vom Regen überrascht, was im April durchaus passieren konnte, war er binnen kurzer Zeit im Schlamm eingeschlossen. Dann konnte ein Gang nach Polna schon zum Kampf gegen die Naturgewalten ausarten.
Polna, Herz der Finsternis. Ein Blick in den Geographischen Atlas zur Vaterlandskunde aus dem Jahr 1910 machte mit vermessungstechnischer Präzision deutlich: das böhmisch-mährische Grenzgebiet war aus urbanistischer Sicht ein leerer Raum. Zwischen Prag und Brünn spannte sich eine riesige Fläche provinziellen Lebens, in deren Zentrum Polna lag, weltabgeschieden, wie gesagt, was so viel bedeutete wie ahnungslos. Am ersten April des Jahres 1899 begann das Erwachen aus einem jahrhundertelangen Schlaf ... (S. 24)
Bluttrinker. Totes Blut. Das Blut ist die Seele. Es kam der Tag, da stieg mir alles zu Kopf. Ich wurde zu einem Blut-Junkie. Ich war süchtig nach Blut, trank es aus Büchern und Bildern und Filmen. Wenn ich die Augen schloß, färbte sich die Rückseite meiner Lider purpur. Was ich träumte, sah aus wie ein falsch belichteter Film, alles in Rot gehalten. Es war, als hätte ich zuviel Blut in mich aufgenommen, als wäre mein Körper überschwemmt von Blut. Ich sah Blut, ich roch Blut, ich schmeckte Blut. Ich war süchtig nach Blut und ich hatte Angst davor, mein eigenes zu verlieren.
Wenn man süchtig ist, passieren die seltsamsten Dinge. Alles läuft rückwärts. Du kriechst nachts aus dem Bett, wenn du todmüde bist, und gehst morgens, wenn du hellwach bist, schlafen. Du siehst auf die Uhr und es ist zwölf, dann schaust du noch einmal und es ist elf. Du willst etwas sagen, doch wenn du den Mund aufmachst, um das erste Wort auszusprechen, hast du bereits das letzte hinter dir, und du hast nicht die geringste Ahnung, was du eben gesagt hast. Völlig absurd, aber was willst du dagegen tun? Du fängst an jedem zu mißtrauen. Jeder hatte es auf mein Blut abgesehen, davon war ich überzeugt. (S. 131)
© 2000, Deuticke, Wien, München.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.