Anselm verstand das feindliche Gehabe nicht, das man ihm entgegenbrachte. Er verstand es bis zu jenem warmen Tag im Mai nicht, als er vor dem Brunnen der Kronenwirtschaft stand und ins wellende Wasser blickte. Er zuckte heftig zusammen, als er eine neugierige Fratze aus dem Wasser starren sah, die er als sein eigenes Gesicht erkannte, nachdem er mit den Händen über seine Wange gestrichen war. Anselm begann zu weinen. Er weinte den gesamten Nachhauseweg. Dann verkroch er sich im Hinterhof auf dem Heuboden des Schuppens, von dem er sich spät in der Nacht nur mit großem Widerwillen von der Mutter herunterzerren ließ.<br>
Der Direktor, der anfangs noch geglaubt hatte, dass sich die Aufregung um den Knaben in kurzer Zeit beruhigen werde, musste jedoch erkennen, dass die Beschwerden in den folgenden Tagen nicht abrissen, sondern sogar noch zunahmen. Deshalb bestellte er am zweiten Freitag im Mai auch eine zweispännige Lohnkutsche vor das Schulhaus, um mit Anselm zu einem angesehenen Bregenzer Medikus namens Benzer zu fahren, bei dem er das Kind untersuchen lassen wollte.
Der Arzt konnte jedoch weder ein nervöses Leiden, noch physische Defekte an ihm konstatieren. Sehr außergewöhnlich schien ihm allerdings, dass Anselms Herz keine dreißig Mal in der Minute schlug. Auch beobachtete er, dass das Kind kaum öfters als vier Mal in der Minute zum Luftholen ansetzte und Anselms Beinmuskulatur für sein Alter von sechs Jahren ungewöhnlich stark ausgebildet war, was er allerdings der harten körperlichen Arbeit zuschrieb, die das Kind höchstwahrscheinlich verrichten müsse.
Da diese außergewöhnlichen Anlagen jedoch bei weitem keine Anzeichen für ein ansteckendes Leiden ergaben und das Kind auch geistig nicht zurückgeblieben war, stellte der Arzt für den Hohenemser Ortsschulrat ein Attest aus, das einen Schulbesuch des Knaben für vollkommen unbedenklich erklärte.
(S. 55–56)
© 2010 Braumüller Literaturverlag, Wien.