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Sonntag, 19.06.2011
Der Sommermorgen war still. Der 19. Juni 2011. Gerade war der Sonntag angebrochen. In dem Waldstück – unweit der ausgebrannten und betonummantelten Reaktorruine – herrschte eine unwirkliche Ruhe. Seit Jahrzehnten waren hier nur mehr das Rauschen der Blätter und vereinzelte Tiergeräusche zu hören. Jeder Morgen war still in Pripjat. Nicht nur die Sonntage. Jeder Tag. Jede Nacht. Nur in den frühen Morgenstunden des Vortages hatte ein plötzlicher Schuss die Totenstille durchbrochen. Die Kugel der Pistole hatte den Kopf des Mannes durchbohrt, der seither hier am Rande der Lichtung verweste. Sein Körper befand sich noch in der Totenstarre, die sich zwei Tage nach seinem gewaltsamen Tod wieder lösen würde. Sein Organismus war in einen viele Stunden andauernden Prozess eingetreten, den Pathologen als Zwischenleben bezeichnen, den langsamen, äußerlich kaum ersichtlichen Vorgang der Selbstauflösung. Nach und nach starben die Zellen des hirntoten Mannes ab. Durch die Schwerkraft war das Blut des Toten abgesunken und allmählich zeigten sich die üblichen bläulichen Leichenflecken unter seiner Haut. Der Mann war hart auf dem Waldboden aufgeschlagen und auf dem Rucksack liegengeblieben. Seitdem lag er wie aufgebahrt in dieser merkwürdigen Haltung, die Wirbelsäule nach hinten gebogen, die Brust nach oben durchgestreckt, Arme und Kopf schlaff von seinem in die Höhe gerichteten Torso hängend. Sein mit einem Kajalstift schwarz bemaltes Gesicht starrte kopfüber in den Himmel, die Augen weit aufgerissen. Der Tote hatte sich über sein Gepäck gelegt, ähnlich wie sich wenig entfernt die gewaltige Arche des Betonmantels über den zerstörten Reaktorblock wölbte, dessen Inhalt sie zu umhüllen und vor der Außenwelt zu verbergen hatte. Die blutverschmierten Haare des Mannes reichten bis ins Gras und auf die Erde, in der das Blut versickert und vertrocknet war, das aus seiner klaffenden Kopfwunde herausgequollen war. Seine linke Schläfe war aufgerissen, und obwohl sich bereits die ersten Aasfresser über die Leiche hergemacht hatten, war das schwarze Gesicht noch zu erkennen. Die starren, geöffneten Augen. Die bläuliche Zunge hinter ausgetrockneten Lippen. Der offene Mund, über den die Fliegen krabbelten und Würmer krochen. (S. 7f.)
© 2011Limbus Verlag, Innsbruck
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LITERATUR FINDET STATT
Eigentlich hätte der jährlich erscheinende Katalog "DIE LITERATUR der österreichischen Kunst-,...
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