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Walter Kohl: Das leere Land.

Roman
Wien: Picus, 2011.
448 S.; geb; EUR (A) 23,90.
ISBN 978-3-854-52675-9.

Link zur Leseprobe

Am Anfang klingt es einfach und mutet als leicht zu bewältigende Aufgabe an. Soll doch ein Katalogbeitrag verfasst werden. Dafür ausersehen ist der namenlose Ich-Erzähler, dessen Namen sich jedoch nach und nach einstellt und alphabetisch so einzuordnen ist wie jener des Autors, des in Eidenberg nahe Linz lebenden Walter Kohl. Es handelt sich um einen monographischen Essay, den der Protagonist, ein seit vielen Jahren in Kanada lebender Journalist, einst Korrespondent einer namhaften österreichischen Tageszeitung (was der reale Walter Kohl nicht zufällig auch war), über den Heiligen Severin zu schreiben beauftragt wird. Der Text soll aufgenommen werden in ein Sammelwerk, das eine von den Bundesländern Ober- und Niederösterreich gemeinsam verantwortete Landesausstellung begleiten soll. Also macht sich der Schreiber auf, liest viel über diesen Heiligen aus dem 5. Jahrhundert nach, der am 8. Jänner 482 wohl im heutigen Mautern bei Krems starb und dessen Gebeine wenig später nach Neapel überführt wurden; seit dem Jahr 1807 befinden sich Severins sterbliche Überreste in der Pfarrkirche von Frattamaggiore in Kampanien.
Doch die umfangreichste erzählende Prosaarbeit, die der 1953 geborene Kohl bisher präsentiert – in den letzten 15 Jahren sind mehrere Sachbücher, darunter das faszinierende „Wie riecht Leben?“ erschienen und Theaterstücke aufgeführt worden –, geht weit über eine belletristische Quellenkritik des Schutzheiligen Bayerns und des Diözesanpatrons von Linz hinaus. Auch wenn die Auseinandersetzung mit frühen Hagiographien sowie mit ideologisch belasteten Biographen des 20. Jahrhunderts eine detailreiche Dekonstruktion der angeblichen und faktisch rekonstruierbaren Taten, der Mythen und des 20. Jahrhunderts nach sich zieht.

Zugleich ist dieser breit angelegte Roman auch eine Meditation über das eigene gelebte wie über ungelebtes Leben, über Herkunft, Heimat und Verlust wie über Verweigerung, über aktuelle politische Zustände nicht nur eines Landes namens Österreich, sondern des gesamten Kontinents Europa.
Hierfür ist die Historie eine exzellente Folie. Nicht selten schimmert keineswegs absichtslos die Gegenwart durch die detailgesättigten Schilderungen des Wunderheiligen Severin, der häufig als raffinierter Politiker und gut vernetzter Diplomat wie als blendend informierter Analytiker der Wirren, Umwälzungen und Vielvölkerscharmützel am zeitlichen wie geographischen Ende des römischen Imperiums gezeichnet wird. Die Geschehnisse zu Beginn der Europa die folgenden Jahrhunderte so maßgeblich prägenden und zerrüttenden Völkerwanderung weisen stupende Parallelen auf zur Gegenwart: eine überlebte, weitgehend hedonistische, durch und durch herabgewirtschaftete Gesellschafts- und reichlich ziellose Regierungsform, deren Zentrum nicht nur am Untergehen, sondern im freien Fall ist und die unter dem Ansturm von Migrationsströmen nur noch eines leichten Anstoßes in Gestalt von Ranküne, blankem Willen zur Macht und terroristischer Anschläge bedarf, um endgültig zu kollabieren und solcherart hinter mehrere Jahrhunderte einer rigiden Herrschaft (die Frieden und Wohlstand durch Krieg errang und sicherte) einen finalen Punkt zu setzen. Hinzu kommen mikrohistorische Wirrnisse, Verheerungen und Zerstreuungen weitgehend kopflos agierender Kommunitäten, die ihrerseits leichte Beute werden von Glauben, Aberglauben und spirituellen Verführern vor apokalyptischem Hintergrund.
Kohl verwebt dies leichthändig mit der sehr gegenwärtigen Geschichte einer Minderjährigen, die vor der bürokratisch angeordneten Abschiebung ihrer gut integrierten Familie mitten in Österreich in die Illegalität abtaucht und von der Polizei gesucht wird, was eine mediale Berichterstattung auslöst, die so manchen Politiker und Minister zu verblüfftem Staunen und medial missglückten Stellungnahmen und Aussagen nötigt. Zufällig ergibt sich ein Kontakt zwischen einer jungen Frau, die der Flüchtigen erstaunlich ähnlich sieht, und dem Protagonisten, der ihr immer wieder hilft und beisteht (nicht ohne dabei erotische Anflüge zu erleben, für die er sich selber in die Schamschranken weist).

Hinzu kommt eine weitere, diesmal ethnologische Reflexions- und Reflektionsebene. Ist doch um das Jahr 2000 herum der Protagonist freiwillig nach Kanada gegangen, nicht nur ob lockender Aufträge und guter Honorare, sondern auch weil er einerseits angeekelt war von einem durch entsprechende Regierungsbildung ausgelösten Neokonservativismus, der einen überdeutlich extremnationalistischen Anstrich trug; und weil er andererseits sich biographisch mit einem Erforscher und Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts auseinandersetzte, der auch den Nachnamen Kohl trug, nämlich Johann Walter Kohl (1808-1878), der Kanada ausdauernd und gründlich bereiste und Material sammelte für ein Buch, das 1859 erschien: Kitschi-Gami oder Erzählungen vom Oberen See: Ein Beitrag zur Charakteristik der Amerikanischen Indianer. So reichern Mythen und Figuren der nordamerikanischen Ureinwohner den Duktus und die Vorstellungsvergleichwelt an, die somit auch zur Charakteristik eines Landstrichs, ja einer gesamten Nation gerät.
Und es gibt einen anderen, buchstabenidenten Namensvetter, der im Ich-Erzähler, der sich am Ende als so unzuverlässig herausstellen wird wie es dieser Darstellungsmodus perspektivisch vorgibt, etwas auslöst: ein Walter Kohl, der auf einer Gedenksäule im Dorf, in dem der Protagonist aufwuchs, verewigt ist. Auf einem Monument für die Gefallenen beider Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts. Und so tut sich als Echogegenraum der weiten Welt und der Fremde – und der historischen Tiefenbohrungen in Severins sich umwälzendem Ufernoricum – die enge, zumindest als peinigend eng empfundene Welt der Herkunft auf, des Dorfes, der Spießigkeit, der Kleinheit im Denken, Fühlen und Zeitverleben vor allem der Mutter, der der Ich-Erzähler nie so recht all das vergeben konnte, was er glaubt, an Hartherzigkeit und Lebenskälte erfahren zu haben.

Gekonnt wechselt Kohl von einer Ebene in die andere über; und mit großem Geschick verwebt er die einzelnen Stränge miteinander. Ähnlich der durch lokale Recherche bedingten Pendelbewegung des Erzählers entlang der Donau baut Kohl den Romanablauf ab. Und fügt eine Vielzahl augenscheinlich autobiographischer und doch verfremdeter Momente, Reminiszenzen, Begegnungen und Gedanken ein – über Politik und Religion, Kompromiss und Kleinmut, Nation und Narretei, über Wagemut und Widerborstigkeit, Aufbruch und Ende und Brüchigkeit (zudem wird beim Protagonisten in der Zeit der Arbeit am Essay eine Diabeteserkrankung diagnostiziert, die für eine weitere leibseelische Komponente sorgt).
Und dann, am Ende, ist das Land leer. Und Walter Kohls lesenswerter Roman zu Ende.

Walter Kluy
16. Jänner 2012

Originalbeitrag

Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.



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