Doch irgendwann beim Zappen durch die Kanäle, beim Versuch, dem ganzen japanischen Kernschmelz-TV zu entkommen, habe ich diese Aufnahmen gesehen, die mir seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ich glaube, es war die BBC, die die Bilder zeigte. Einmal nur, eine Randnotiz, dann waren sie verschwunden. Die Medien haben keine Zeit, sich näher mit den paar Wasserleichen zu beschäftigen, die vor ein paar Tagen an die Kyrenaika gespült wurden, an die Küsten der östlichen Provinz Libyens.
Ein Schiff sei gekentert, hieß es. Etwas, das bei den Flüchtlingsbooten aus Afrika immer wieder passiert. Und im blutigen Krieg um die Rebellenhochburg Benghazi war das nur eines unter vielen Bildern von zivilen Todesopfern. Gut ein Dutzend Männerleichen lag am Strand, nasse Fleischsäcke, die Nasen in den Sand gebohrt.
Gesichter konnte ich keine sehen. Die Aufnahmen waren verschwommen und kurz geschnitten, als wollte die BBC ihren Zusehern den Anblick dieser Toten ersparen, brauchte aber kurz irgendein Bildmaterial, um die nächsten GAU-Meldungen aus Japan vorbereiten zu können.
Die dunklen Gestalten, die da von den Wellen des Mittelmeers zum Trocknen in die Morgensonne hingeworfen worden waren, sahen nicht aus wie Araber. Sie sahen auch nicht aus wie die ostafrikanischen Flüchtlinge, die alles dafür geben, um ihren Elend zu entkommen, um Lampedusa zu erreichen, europäischen Boden unter den bloßen Füßen zu haben, sei es auch in einem überfüllten Auffanglager. Die afrikanischen Exilanten werden bereits in libyschen Lagern aufgehalten, zusammengepfercht. Um das durchzusetzen, schloss die die EU einen Pakt mit Gaddafi. Auch in ihren Verhandlungen mit den Rebellen wird dieser libysche Grenzschutz für Europa neben dem Erdöl das Hauptanliegen der EU sein. Für die afrikanischen Flüchtlinge wird sich wenig ändern. Nur wenige von ihnen haben das Glück, die libyschen Grenzlager der EU zu überwinden und weiterzukommen. Nur wenige schaffen es, tiefer in die europäische Phalanx bis ins italienische Lager auf Lampedusa zu dringen, dorthin, wo dann spätestens ihr Glück endet. Dort kleben sie aufeinander im Limbus zwischen Himmel und Hölle, und jeden Tag ermatten ihre Körper mehr, geben sich der Erschöpfung hin, werden gezeichnet von den nicht enden wollenden Strapazen ihrer aussichtslosen Flucht.
Am Leben gehindert wie diese armen Teufel sahen die BBC-Wasserleichen nicht aus. Sie sahen aus wie wir. Sahen aus, wie ich noch vor zwei Wochen ausgesehen habe. Ein verstaubender Europäer, der, auch wenn er seelisch noch so ausgehungert sein mochte, wohlhabend wirkt, selbst nach Wochen der Entbehrung und frustriert vom Wüstensturm, dem Gibli, der ihm im heißen Saharasand ins Gesicht schlägt. Ein Afrika-Reisender erster Klasse, auch wenn er zu Hause keineswegs der oberen Klasse angehört. Einer wie ich, der nicht recht weiß, was er tragen soll, wenn er in Libyen unterwegs ist. Weder zu warm noch zu kurz will er gekleidet sein. Er will weder den Eindruck erwecken, dass er vermögend und somit ein potentielles Entführungsopfer ist, noch will er schäbig und unseriös wirken. Er will nicht schwitzen und nicht frieren. Da landet er bei diesen Kompromissbekleidungen. Braune hochgestülpte Sweatshirts, Dreiviertel-Hosen, farblose Jacketts. Genau wie die BBC-Leichen am Strand irgendwo südlich von Benghazi. Genau wie Anton Corwald.
(S. 13-16)
© 2012 Limbus Verlag, Innsbruck.