Leseprobe:
Johannes trug den Schreibtischsessel als Sprungpodest auf den Balkon, öffnete den Kleiderkasten, ließ die Bügel über die Stange rutschen und entschied sich, in einer Cordhose mit nacktem Oberkörper zu sterben. Schließlich ging er zum Abstellbrett über seinem Schreibtisch und nahm den Fischbandwurm in beide Hände. Das Spiritusglas war kühl, der Wurm mit Stecknadeln an eingeschweißtem Papier befestigt, sodass er sich nicht bewegte, wenn er das Glas in den Händen drehte.
Johannes ging zurück zu seiner Anlauframpe, hob und senkte die Arme, ließ seine Schultern kreisen, sprang auf und ab, lockerte seine Handgelenke. Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Die Nacht sah weich aus, dachte er, ein schwarzes Tuch, das ihn auffangen würde, bevor er Schmerzen spürte."Drei", Johannes ging in Anlaufstellung. "Zwei", am Himmel tanzten die Sterne, als wollten sie ihn ermutigen. "Eins", er biss die Zähne zusammen und schnaufte, so wild pochte sein Herz. "Null", schrie er sich selbst zu, stieß sich mit den Armen von der Wand ab und lief zum Balkon.
Er machte einen Satz über die Schwelle zwischen Zimmer und Balkon, ruderte mit den Armen, sprang auf den Bürosessel, schwang mit allen Gliedmaßen, und plötzlich spürte er, wie sich die freie Luft anfühlte. Die Welt verlangsamte, Johannes hörte sein Blut rauschen, sein Herz schlagen, unsichtbare Frühsommernachtsinsekten blieben auf seiner Haut kleben, bis er realisierte, dass er nicht dorthin fiel, wohin er wollte.
(S. 281f)
© 2012, Kiepenheuer & Witsch, Köln