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annewiegner

vor 3 Monaten

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Eva, das Mädchen vom Lande, kommt Anfang des vergangen Jahrhunderts nach Paris auf der Suche nach einem neuen, aufregenden Leben. Sie findet im berühmten Moulin Rouge eine Anstellung als Näherin und in Picasso ihre große Liebe. Obwohl sie eher schüchtern und bescheiden ist, weiß sie doch, was sie will. Sie überwindet alle Widerstände, wird im Theater zur unentbehrlichen Kostümgestalterin und im Leben zur Geliebten des Ausnahmekünstlers.

Zugegebenermaßen hat mich am Anfang der schwülstige Sprachstil sehr gestört (dafür ziehe ich einen Stern ab), aber je weiter die Handlung fortschritt, umso seltener bin ich „gestolpert“, weil mich die Ereignisse mit all ihrer Dramatik in ihren Bann gezogen haben. Die Autorin erzählt eine in sich geschlossene Geschichte, mit straff gespannte Handlungsfäden, die sich nicht auf Nebenschauplätzen verzettelt. Man erhält - immerhin handelt es sich um einen Liebesroman - sehr viele, wenn auch subtile Hinweise auf Picassos kubistische Schaffensperiode, wie er zu seinen Motiven und Techniken fand, über seinen Wettstreit mit Braque, sein gespaltenes Verhältnis zu anderen zeitgenössischen Künstlern und warum er den Realismus ablehnte.

Auch die gesellschaftliche Stimmung im zweiten Jahrzehnts des vergangenen Jahrhunderts wird sehr gut eingefangen (Künstlerszene, Großstadtleben, technischen Neuerungen, Katastrophen, aufeinanderprallende Konventionen, der Erste Weltkrieg). Nicht nur, dass mir der Name Eva Gouel vorher noch nicht begegnet war, obwohl ich schon einige Picasso-Biografien gelesen habe, auch von der möglichen Verstrickungen des Künstlers in den Mona Lisa-Raub hatte ich vorher noch nichts gehört. Ebenso hätte ich nicht gedacht, dass zu dieser Zeit Krebsdiagnose, Chemotherapie und Brustoperation bereits zum medizinischen Alltag gehörten. Ich denke, die Schriftstellerin muss ziemlich umfangreich recherchiert haben, um all das so ganz nebenbei einzuflechten.Und so hat mich dieser Roman mehr als nur einmal zu vertiefenden Recherchen im Internet angeregt, was bisher noch keiner Liebesgeschichte gelungen ist.

Besonders beeindruckend fand ich, wie Anne Girard das Wesen Picassos zu entfalten vermochte, sowohl als Mann als auch als Künstler, diese exzentrische Besessenheit, mit der er seine Ziele verfolgte, ob in der Kunst oder bei den Frauen. Er war ein von seiner Lust und seinem Genie Getriebener, der rücksichtslos seinen Weg gehen musste, um der bedeutendste Künstler des 20. Jahrhunderts zu werden.

Es hatte so viele Geliebte gegeben, so viele Affären, Freunde, Huren und Fremde. Frauen zu verführen war ihm stets ebenso leichtgefallen wie zu malen. Beides gelang ihm instinktiv. Aber zum ersten Mal in seinem Leben wollte Picasso treu sein.“ (S. 315)
Vielleicht hat er Eva wirklich geliebt, aber ganz sicher hätte er auch sie wieder verlassen, wäre ihm das Schicksal nicht zuvorgekommen. Keine Frau konnte auf Dauer mit ihm Schritt halten, weil er sich viel schneller entwickelte und veränderte, als sie es je gekonnt hätten. Sie waren ihm Inspiration und Kraftquell (sexuell und geistig), haben seinen Jagdinstinkt und seinen Ehrgeiz immer neu entzündet, haben ihn zu großartigen Kunstwerken beflügelt, aber wenn sie ihren Reiz verloren und ihn am Weiterstreben hinderten, musste er sich lösen und zu neuen Ufern aufbrechen.
So habe ich, obwohl der Roman eigentlich Eva Gouel gewidmet ist, auch sehr viel über Picasso erfahren und darüber, wie seine Kunst entstand.

Ich fand diesen Roman interessant, berührend, spannend in seiner Verquickung von Fiktion und Wahrheit, tiefgründig, unterhaltsam.

Autor: Anne Girard
Buch: Madame Picasso
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