Rezension 2009
Erika Wimmer, Die dunklen Ränder der Jahre
Wien und Bozen: Folio Verlag 2009
„Theater ist Totenbeschwörung“, hat Thomas Oberender, Schauspielchef der Salzburger Festspiele, unlängst in einem STANDARD-Interview gesagt und von Figuren wie Ödipus gesprochen, die “Figuren von monströser Verdrängung“ sind. Immer wieder treten sie auf, „eine endlose Wiedergängerei.“
Es ist Spätsommer 2009, und eben ist ein neuer Roman von Erika Wimmer erschienen, ein Roman, sprachmächtig und stilsicher, ein reifes Werk voller Spannung, die das Erzählfeuer geschickt entfacht und stets lodern lässt, indem die Handlung nach einer fein komponierten Erzähldramaturgie enthüllt wird. Wenn die handelnden Personen dann beinah ganz enthüllt und also halbnackt dastehen, sind sie tatsächlich Wiedergänger von Figuren wie Ödipus: die eine, Theresa, eine Frau von ungefähr 50 Jahren, und der andere sowieso, ein gewisser Jeanluc Cornu, ein Mann über das siebte Lebensjahrzehnt hinaus. Beide taumeln durch die flirrende Hochsommerhitze Montpelliers und glauben alles von sich und einander zu wissen, ohne sich und einander freilich auch zu kennen. Familienbande verknüpfen sie eng, aber der Erzählknoten ist so geschürzt, dass die Tochter ihren Vater über eine weite Strecke, über Jahrzehnte erst, über diesen schließlich doch in Erfahrung gebrachten Namen – Jeanluc Cornu – aufspüren muss.
Der weite Erzählkosmos, den die Autorin nach und nach ausbreitet, spielt sich in den langen Stunden ab, die an jenem Tag und in jener Nacht und an jenem Morgen, da sich Vater und Tochter endlich begegnen, verstreichen. Zu Beginn geht es uns wie Theresa mit den vergangenen Zeiten, in denen sie nicht gelebt hat: Wir haben wie sie „im Grunde keine Ahnung“, „nur die Bruchstücke aus Erzählungen, nur die zwei Fronten im Kopf und eine Emotion dazu.“ Kapitelweise erfahren wir diese Bruchstücke jeweils aus der Perspektive des Vaters bzw. der Tochter.
Die Toten, die sie beschwören, sind Frieda, Theresas Mutter, mit der die Tochter stets das Bett geteilt und an die sie sich gebunden hat (beinah wie Norman Bates in Hitchcocks Psycho an die seine): „Und jetzt liegt Frieda wieder neben ihr. Gemieft hat sie ja immer schon, aber jetzt ist sie auch noch tot und mieft ihrem Zustand entsprechend sehr stark.“ Und Cornu, damals Lukas Peer, ein Wehrdienstverweigerer aus feiner Wiener Familie, hat gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hin einen erschlagen, der den in Tirol Untergetauchten verraten hätte können. Er hat sich dann nach Südfrankreich abgesetzt, „er musste ein Nazi und er musste ein Verbrecher gewesen sein“. So erklärt sich das seine Tiroler Tochter Theresa, er aber hat sich als Franzose eine Widerstandskämpfer-Biographie zurechtgelogen.
Jetzt, wo er angetrunken in irgendeiner Bar Montpelliers sitzt, jetzt, wo er sich umbringen will, gilt: „Wenn er umkippt, dann fallen sie über ihn her, die vermoderten Gestalten, die er schon jahrzehntelang mit sich herumschleppt. Was sich einmal bedeckt hielt, kommt jetzt hervor.“ Eine ganze Familie ist da, die ferne in Wien und die Nahe in Frankreich, und dann natürlich diese Österreicherin, die ihn an diesem Tag besuchen kommen will. Und die trifft den Herumirrenden nicht an, sodass sie an einander vorbeihalluzinieren. Diese Halluzinationen der blind Handelnden schaukeln sich heftig auf, aber beide kommen schließlich mit dem Leben davon. Theresa wird von Gabriel, ihrem südländischen Verehrer, aufgefangen, der gestrandete Cornu von seiner südfranzösischen Familie. Theresa aber bleibt die schreckliche Erkenntnis nicht erspart: „Sie erkennt die Frau und erstarrt. Wie durch einen Nebel beobachtet sie die Szene, wie sich ihr Vater auf den Sitz fallen lässt und langsam die Tür zuzieht, wie seine Tochter um das Auto geht, einsteigt und gleich darauf den Wagen in Bewegung setzt, ihn im Rückwärtsgang aus der Parklücke manövriert. Sie dreht den Kopf zur Seite, für einen Augenblick stehen sie parallel nebeneinander.“
Obwohl diese Schlussszene die Wucht der Tragödie illustriert, kommt der Roman keinesfalls nur schwer daher. Dunkel ist sein Inhalt, zugegeben, und das Präsens der Gegenwart reibt sich immer scharf am Präteritum und Perfekt der Vergangenheit. Aber dieses Dunkle steht auf der soliden, erhellenden Erzählbasis von Zeit und Ort: Zeitgeschichte über zwei Generationen, Ortskenntnisse über mehrere Staatsgrenzen hinweg. Das Ganze ist von solcher Souveränität, dass auch Anekdotisches einfließen kann. Da gibt es zum Beispiel diese Geschichte von „den beiden Engländern dort drüben“, die meines Erachtens die Genialität von Thomas Bernhards „Stimmenimitator“ erreicht. Oder: Cornu ist gerade völlig ausgelaugt im Hotel, in dem auch seine Tochter logiert, angekommen; da fällt der Blick der Erzählerin nach draußen auf die allmählich unter Hitzeschleiern zum Erliegen kommende Stadt. Und da gleitet dieser Blick von der Frau mit dem Rollstuhl auf die fünf Halbstarken vor dem Bahnhof, schlüpft in ein Wohnhaus und hört die vor Lust schreiende Prostituierte, streift die beiden rauchenden Mädchen, die über Fabian zischeln, und den Algerier auf der Place de la Comédie, dem die Tränen kommen; „weiter drüben, auf der Promenade du Peyrou, sitzt eine faltige Frau im ärmellosen Hauskittel auf dem Steinboden“ und so weiter. Das ist mindestens so grandios wie der Einstieg in Jean-Pierre Jeunets „Fabelhafte Welt der Amélie“. Keine Abwertung des jüngeren Mediums Film, aber ein aktueller Beweis: Was der Film kann, kann gute Literatur schon längst.
Bernhard Sandbichler