Rezension 2009

Reinhold Messner, Torre. Schrei aus Stein 
München: Malik 2009 

Eroberer des Nutzlosen

Reiseschriftsteller – das sind Schriftsteller, die über Land und Leute schreiben, die sie bereisen. Bruce Chatwin ist einer von ihnen, und ein wunderbarer. Wenn man seine »Reise in ein fernes Land« mit dem Titel »In Patagonien« liest, erfährt man viel Nützliches, denn so nomadenhaft er lebte, so belesen war er dennoch und besaß die Fähigkeit, einerseits mit Landsleuten ins Gespräch zu kommen und andererseits all das in stilistisch vollendetem Plauderton zu erzählen.

Bei Bergschriftstellern ist das anders. Ihre Reiserouten führen zumeist weg von menschlicher Zivilisation steil nach oben. »Stillschweigend beginnen sie in Richtung Gipfel zu klettern.«, heißt es im neuen Buch von Reinhold Messner folgerichtig von den zwei Bergsteigern Bonatti und Mauri; und als dann am Morgen des 7. Feber 1958 zwei Kollegen, ebenfalls in Richtung Adela-Gipfel, auftauchen: »Bonatti und Mauri freuen sich über die Begegnung: Es ist das erste Mal, dass sie Landsleute in Patagonien treffen, und es fehlt nicht an Unterhaltungsstoff. Maestri aber bleibt abweisend und stumm. Um 12.30 Uhr verabschiedet man sich, und jede Seilschaft setzt ihren Weg fort.« Hier herrscht ehrgeiziger, rivalisierender Sportsgeist, keiner will außer Atem und Tritt kommen. Der (noch unbestiegene) Stein des Anstoßes heißt Cerro Torre, ein über 3.100 Meter hoher Granitblock, zwischen der argentinischen Pampa und dem chilenischen Kontinentaleis gelegen, in den Anden Patagoniens. Es ist die Zeit »jener Generation von Bergsteigern, die sich vor allem durch Neutouren auszeichneten«, aber noch gilt: »Der ›Torre‹ war 1958 unmöglich. Es fehlte an der richtigen Ausrüstung, am Know-how, an Erfahrung. In Patagonien kann man nicht klettern wie in den Dolomiten.« Der stumme Cesare Maestri aber, ein Großmaul in der Ebene, nennt sich selbst »die Spinne der Dolomiten«. Und um ihn geht es hier: einerseits um »sein Temperament, seine ganze Kraft – sowohl die körperliche wie die geistige – [...] auf die paar Quadratmeter Fels gerichtet, an denen er gerade hängt und weiter emporturnt.«, und andererseits um den Mann mit »Vorliebe für das Theatralische«, den »genialen  Felskletterer«.

Felskletterer, Bergsteiger: Klar sind es Männer, die der Berg ruft. Bergsteigerinnen wie Gerlinde Kaltenbrunner sind ein jüngeres Phänomen. Wenn sie mit ihren Kolleginnen Nives Meroi und Edurne Pasaban auf den Achttausendern dieser Erde unterwegs ist, gibt es keinen Wettkampf. »Ihre Leidenschaft gilt nicht allein den hohen Bergen des Himalajamassivs. Auch von den Menschen und deren fremder Religion und Kultur lässt sie sich bewegen und verzaubern.«, liest man auf ihrer Homepage. Völlig atypisch für Männer! Männer ruft der Berg, Männer wie Messner, der das »Klettern als Rebellion gegen das flache Leben« definiert. Und bei ihm ruft der Berg auch nicht bloß, als der wohl »schwierigste« Berg der Welt schreit der Cerro Torre sogar, es ist ein »Macho-Berg« par excellence, der »Marilyn-Monroe-Berg« (Andy Kirkpatrick). Der eindringliche Schrei drang auch zu Werner Herzog, der unter dem Titel Schrei aus Stein (1991) seinen schwächsten Film produzierte: ein verunglückte Dreiecksgeschichte rund um den Cerro Torre, an der auch Messner – den Herzog in der TV-Doku Gasherbrum – Der leuchtende Berg 1985 porträtiert hatte – nicht unerheblich beteiligt war. Das Buch jetzt, 50 Jahre nach dem historischen Ereignis, zeigt Messners Interesse, »diese Geschichte nachzuerzählen und nicht zum x-ten Mal eine eigene«.

Angekündigt wird die Faction um die angebliche Erstbesteigung des Cerro Torre durch Cesare Maestri und Toni Egger im zweiten Anlauf Jänner 1959 als »Bergsteiger-Krimi«. Maestri ist Messners Figur, die – zunächst aus dem Blickwinkel des jugendlichen Zeitzeugen nachgezeichnet (»Cesare, mein Held [...], der Rebell, der bedingungslose Freikletterer«) – sich zusehends mit der realen Person der letzten Jahrzehnte vermischt. Ganz in der Tradition des bergsteigenden Rivalen verweigert dieser Cesare Maestri allerdings seinem recherchierenden Konkurrenten die Aussage. Das Verbrechen Maestris besteht darin, dass er – nach schweigsamem Reiseantritt (»der Aufbruch am 28. Januar 1959, in aller Stille, wie ein Ritual«) – zurück von der Reise gegen das Gesetz der Schweigsamkeit verstößt; als vortragender Showman erzählt er ein tragisches Bergmärchen (Erstbesteigung gelungen, Partner beim Abstieg verunglückt). Und Messner, Beobachter aus der Ferne und Chronist, entdeckt sukzessiv Widersprüchliches. Ein Verdikt über dieses heroisch inszenierte Erzählen alpiner Historie ist bald gefällt: »unmöglich« diese Erstbesteigung, unmöglich wie schon 1958; dann folgen ein hin- und herwälzendes Räsonieren über Motive und Emotionen der mythischen Hauptfigur sowie sämtliche Kronzeugen der »Unmöglichkeit der Tat« (das sind die späteren Expeditionen, denen die Besteigung miss- oder gelingt).

Messner, dem Klettern und Bergsteigen »anarchisches Tun in einer archaischen Welt« sind, geht es um das Zurechtrücken der Geschichte. Spannend schildert er, was laut Maestri geschah und  was warum so nicht sein konnte; er liefert das Psychogramm eines vom Ruhm Getriebenen, der als pathetischer Vortragender in Bann schlug, aber mit dem Großteil der Bergsteiger-Community in Fehde lag. Mag sein, dass Messner wichtige Literatur zum Thema (Tom Dauer, Peter Meier-Hüsing) unterschlägt und sich selbst in den Vordergrund schreibt. Ja, und alles, was man von Patagonien erfährt, ist selbstredend auf den Cerro Torre reduziert. Zwei Seiten und ein Foto bloß über den nächsten zivilisierten Ort (das geschichts- und gesichtslose Touristen-Kaff El Chaltén). Man sieht: Messner hat so gar nichts von Chatwin. Kletterer und Bergsteiger reisen nicht für andere, sie reisen nur für sich. Diesen egomanen Solotrip, dessen schweigsames Gegenüber der unerbittliche Berg ist, gilt es mit allen Mitteln des Suspens beredt darzustellen, um Bewunderung für den Bezwinger zu erregen. Vielleicht ändert sich das aber, wenn die Zukunft des Kletterns und Bergsteigens weiblich wird?

Bernhard Sandbichler