Rezension 2009
Rosmarie Thüminger, Mit offenen Augen. Adele Stürzl. Eine Annäherung
Tiroler Autorinnen u. Autoren Koop. 2009
April 1944: Der 53-jährigen Adele Stürzl wird der Prozess gemacht. Ihr Vergehen: der Aufbau kommunistischer Zellen in Tirol und die Begünstigung des Feindes durch die Förderung kommunistischer Bestrebungen. Das Gericht in München verurteilt die Angeklagte mit sechs anderen zum Tod. Zwischen Urteilsverkündung und Vollstreckung des Todesurteils, mit der Rosmarie Thümingers literarische Annäherung an die historische Person Stürzl endet, schiebt sich die Lebensgeschichte der Kommunistin als exemplarische Antwort auf die Frage des Erzählers „Wie waren sie zu denen geworden, als die sie nun sterben würden?“ (S. 10).
Der Erzähler referiert aber nicht nur biographische Daten, sondern verknüpft Stürzls Lebensstationen mit zeitgeschichtlichen Ereignissen, die die Protagonistin mit offenen Augen als Zeitzeugin miterlebt, zu einer Geschichte. Leerstellen werden behutsam mit fiktionalen Elementen aufgefüllt zum Zweck, Stürzls politisches Engagement plausibel zu machen:
Geboren im Arbeiterbezirk Wien-Favoriten als Tochter eines Pferdeknechts und einer Bedienerin übersiedelt Adele mit ihren Brüdern nach dem Tod der Mutter ins südmährische Boroditz zu Tante und Großvater. Ihren Lebensunterhalt verdient die 10-Jährige selbst als Kindsdirn bei einem Bauern. Anders als ins Wien leidet sie auf dem Land keinen Hunger, dafür aber unter dem Verlust der Familie und der Lieblosigkeit ihrer Umgebung, denn für Freundlichkeit ist keine Zeit. Als der Vater wenig später stirbt, wird sie zu einer Tante nach Taßwitz weitergereicht, die Adele als Magd im Pfarrwidum unterbringt. Der Pfarrer, unbarmherzig, ungerecht und jähzornig, prügelt ihr den Grundsatz ein: „Es gibt ein Oben und ein Unten, daran ist nicht zu rütteln, diesem Prinzip haben sich alle zu fügen. Das ist Gottes Wille. Gott hat alle an ihren Platz gestellt, die einen zur Pflicht, ihre Macht auszuüben, die anderen zum Gehorsam.“ (S. 23) Die Tante sekundiert ihm: Dienstboten, insbesondere weibliche, haben keine Rechte; sich demütig zu fügen ist ihre einzige Bestimmung. Adele rebelliert und flieht. Sich an das väterliche Diktum erinnernd: „Stadtluft macht frei“, zieht sie nach Wien und wird Ladenmädchen und Haushaltshilfe bei einer jüdischen Greißlerfamilie, die sie anständig entlohnt, ihr das erste eigene Zimmer gibt und sie wie ein Familienmitglied behandelt. Diese positive Erfahrung bewahrt sie davor, die antisemitischen Ressentiments ihrer Mitbürger zu teilen, nicht aber, sich der Arbeiterbewegung anzuschließen. Durch ihre Kontakte zur sozialdemokratischen Bewegung ist sie zum ersten Mal im Leben nicht mehr auf sich allein gestellt: Sie gehört zu einer Gemeinschaft und fühlt sich stark: Das sozialdemokratische Programm - der Kampf gegen die ungerechte soziale Ordnung - ist auch Adeles Kampf; zum ersten Mal sieht sie eine Zukunftsperspektive: Die durch Vorträge und die Lektüre sozialdemokratischer Schriften erworbene Bildung erlaubt ihr, Kritik zu artikulieren, und stärkt ihr Selbstvertrauen. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs zieht Adele nach Budapest, wo sie zum Kindermädchen bei einer gutbürgerlichen Familie aufsteigt und ihren späteren Mann Hans kennenlernt, der ihre Ideale teilt und mit dem sie nach dem Krieg eine Existenz in Kufstein aufbaut. Obwohl sozialdemokratisches Engagement aufgrund der politischen Lage gefährlich ist, sich die beiden ihren Platz in der Gesellschaft erarbeitet haben und Hans zur Ruhe kommen möchte, arbeitet Adele weiter politisch, zunächst für die Sozialdemokratische, später, nach Querelen innerhalb der Partei, für die Kommunistische Partei, bis sie verhaftet und hingerichtet wird.
Rosmarie Thüminger zeichnet Adele Stürzl als konsequente, kompromiss- und furchtlose Person, die Unrecht nicht erträgt, sich durch die Zeitereignisse nicht einschüchtern lässt und mit offenen Augen ins Verderben geht, aber auch ihre Ideale über das private Glück stellt. Für ihre politische Tätigkeit und den Widerstand gegen das NS-Regime riskiert sie nicht nur das eigene Leben, sondern auch das ihres Ehemanns und nimmt in Kauf, dass ihre Ehe zerbricht.
Während Thümingers Darstellung von Stürzls politischem Werdegang überzeugt und die Autorin ein sehr genaues Zeitbild zeichnet - die Schattenseiten in der Geschichte der Sozialdemokratie entgehen ihr ebenso wenig wie die zynische Tatsache, dass jüdische Bürger als gute, österreichische Patrioten begeistert in den Ersten Weltkrieg zogen, um wenig später im selben Staat verfolgt, vertrieben und ermordet zu werden - spart sie die Annäherung an die Privatperson Stürzl weitgehend aus: So erfahren die LeserInnen zwar, dass Hans in der kinderlosen Ehe leidet, nicht aber, was Adele fühlt. Im Dunkeln bleibt auch, ob Adele jemals über die Auswirkungen, die ihre Aktionen für andere haben, nachdenkt, sie gelegentlich Zweifel, Reue oder auch Angst spürt.
Ganz offensichtlich wollte Thüminger keinen historischen Roman, sondern eine faktenbasierte Biographie mit fiktionalen Elementen schreiben, wofür auch die von ihr gewählte Erzähltechnik spricht. Durch die Er-Form und einen distanzierten Erzähler, der vorwiegend aus der Außenperspektive meist sachlich und selten wertend berichtet, ist eine Art Heldengeschichte entstanden, in der allerdings die Heldin blass und unpersönlich bleibt. Das kann als Defizit empfunden werden, doch wahrt Thüminger dank sparsamer Fiktionalisierung das Wahrhaftigkeitsprinzip. Ein wenig irritierend ist nur, dass sie dieses Prinzip gelegentlich aufgibt, etwa, wenn die Figur Adele wiederholt versichert, wie richtig und gut es sei, Kommunistin geworden zu sein, oder wenn der Erzähler über die emotionale Belastung, die die Haft und die Aussicht auf den Tod für Adele haben muss, Mutmaßungen anstellt.
Abgesehen von diesen geringfügigen Schwächen ist Mit offenen Augen ein lesenswertes und wichtiges Buch, mit dem Thüminger anschaulich und lehrreich eine Lektion in Zeit- und Wirtschaftsgeschichte, Regional- und Parteiengeschichte, in der Geschichte der Frauenrechtsbewegung und des Widerstands gegen das NS-Regime erteilt. Sie erinnert nicht nur an die bewegte politische Geschichte Österreichs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Lage der sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten - der Ungebildeten, Zugewanderten, der jüdischen Bürger, der Frauen -, das Erstarken der sozialdemokratische Bewegung als Reaktion auf die Missstände und die Parteienkämpfe im Österreich der Zwischenkriegszeit, sondern leistet auch Aufklärungsarbeit: Adele Stürzls Leben und Wirken ist zwar Thema einiger wissenschaftlicher Aufsätze, doch dürfte es der breiteren Öffentlichkeit wenig bekannt sein. Übrigens enthält das Buch auch ein Glossar mit Informationen über politische Ereignisse und historische Personen, die in Thümingers Text erwähnt werden, doch leider ist es nicht vollständig.
Ruth Esterhammer