Rezension 2009

Else Prünster, Magdalena Ölzant: Leo Sebastian Humer 1896-1965
Wien, Bozen: Folio Verlag 2009

Die gegenwärtige Bücherflut – zum Großteil von der öffentlichen Hand gefördert – schwemmt dem Leser manches Buch zu, das von vornherein entbehrlich gewesen wäre. Dieses Buch gehört keinesfalls zu dieser Sorte. Zu spannend ist diese Künstlerbiographie und doppelt spannend vor dem Hintergrund der Zeit, in die Humers Leben fällt. Trotzdem wird man mit diesem Buch nicht vollends glücklich, weil es in manchen Passagen zu oberflächlich und ungenau ist, weil es offensichtlich kein professionelles Lektorat gegeben hat. Somit konnte die im Vorwort versprochene Darstellung der Stationen des Künstlerlebens von Humer im Kontext der damaligen sozialpolitischen Situation nur teilweise eingelöst werden. Über weite Strecken ist nur das Gerippe da, die schillernde Künstlerpersönlichkeit erhält zu wenig Kontur. Mag sein, dass die Quellensituation schwierig ist, aber es gibt immerhin einen Nachlass des Künstlers. Eine kurze Beschreibung dieses Nachlasses hätte über dessen Ergiebigkeit Auskunft geben müssen, ein Gesamtverzeichnis des bisher bekannten Werkes wäre ein Desiderat gewesen. Denn gerade die Porträtierten liefern, wie man an den wenigen im Buch vorgestellten Beispielen sieht, wichtige Hinweise auf das Umfeld, in dem sich Humer bewegt hat. Gottfried Riccabona beispielsweise, der Vater der porträtierten Kinder Dora und Max, war lange Zeit Rechtsanwalt in Innsbruck gewesen und versuchte sich auch als Schriftsteller, Alfred Eccher-Eccho war der Begründer des Innsbrucker Flughafens, Engelbert Buchroithner Besitzer der Wagnerschen Universitäts-Druckerei in Innsbruck.
In Bozen entstanden Porträts von Erich Amonn und Lothar Christanell (Sohn des Vizebürgermeisters von Bozen), in Meran ließen sich auch prominente Kurgäste porträtieren, wie etwa die Tennisspielerin Cilly Aussem. Das schon 1922 entstandene Porträt von Hubert Mumelter weckt die Neugier, wie diese Bekanntschaft zustande gekommen ist. Humers Beziehung zu Ernst Nepo, dem anderen wichtigen Vertreter der Neuen Sachlichkeit in Tirol, oder auch zu Wilhelm Nicolaus Prachensky wäre unbedingt ausführlicher darzustellen gewesen. Auch über das offensichtlich freundschaftliche Verhältnis zum Architekten Clemens Holzmeister müsste es mehr zu berichten geben, als dass Humer bei mehreren von Holzmeister ausgeführten Projekten die künstlerische Innengestaltung übernahm. Die Abbildung eines Briefes von Kubin an Humer, der wegen seiner schweren Lesbarkeit hätte transkribiert werden müssen, genügt für die Darstellung dieser (vielleicht nur marginalen?) Beziehung nicht. Aus mehreren Literaturhinweisen ist zu entnehmen, dass das hier vorgelegte Buch, was den Informationsgehalt betrifft, hinter die 2005 abgeschlossene Diplomarbeit von Else Prünster über Humer zurückgefallen ist.

Humer wurde in Brixen geboren, seine Familie übersiedelte aber schon 1907 nach Innsbruck, wo er die Realschule besuchte. Von der Schulbank aus meldete er sich als Freiwilliger und kämpfte an der Ost- und Dolomitenfront. Die aus dieser Zeit stammenden Zeichnungen deuten bereits sein Talent als Porträtist an. Leider erfährt man nicht, wie es dazu kam, dass Humer noch während des Krieges einen Studienurlaub erhielt, um sich an der Akademie der Bildenden Künste in München einzuschreiben. Dort studierte er jedenfalls von Anfang Dezember 1918 bis 1921. Eine seiner ersten Ausstellungen hatte er offensichtlich 1921 in Japan, in Tokio wurde diese (oder war das schon eine andere?) 1923 durch ein Erdbeben zerstört. Ab 1921 etablierte er sich rasch im Nordtiroler Kunstbetrieb, hielt sich 1923-1925 vorwiegend in Südtirol auf und beteiligte sich hier u.a. an der 2. Kunstbiennale der Venezia Tridentina, war 1925 in Innsbruck Mitbegründer der Künstlervereinigung "Wage" und organisierte die Wanderausstellung "Tiroler Künstler", die 1925/26 in Deutschland, zuerst in Gelsenkirchen, dann u.a. in Düsseldorf, Hamburg und München zu sehen war. Die Folge dieser Deutschlandkontakte war seine 1926 (oder 1927?) erfolgte Übersiedlung nach Düsseldorf. Sein Brot verdiente Humer anfänglich als Illustrator diverser Zeitungen (leider sind im Buch keine Abbildungen davon zu sehen). Humer wurde 1932 Mitglied der NSDAP, seine deutschnationale Haltung deutete sich allerdings schon in einem Plakat an, das er 1921 für die Volksabstimmung in Tirol anfertigte. Humer wurde 1933 außerordentlicher Professor an der Akademie der Bildenden Künste in Düsseldorf und übernahm die Klasse des entlassenen Paul Klee, 1939 wurde er zum Ordentlichen Professor ernannt. Im Zweiten Weltkrieg betreute er Künstler der Propaganda-Staffel in Belgien und Italien. Da sein Haus in Düsseldorf zerstört wurde, übersiedelte die Familie schon 1941 nach Bregenz. In Vorarlberg arbeitete Humer seit 1945 vorwiegend an sakralen Auftragsarbeiten.
Sein künstlerisches Schaffen umfasst ein weites Spektrum von Porträts bis zu großflächigen Wandmalereien. Er beginnt mit naturalistischen Kopfstudien. Die hervorragende Tuschskizze, seinen Studienkollegen Erwin Henning im Stile der Karikaturen von Max von Esterle darstellend, scheint leider ein Einzelversuch gewesen zu sein. Sein Selbstporträt, auf dem Buchumschlag abgebildet, lässt den starken Einfluss von Egon Schiele, sein Bildnis "Mädchen im roten Kleid" jenen vom Tiroler Altmeister Egger-Lienz erkennen. Die größte Eigenständigkeit findet er in seinen Bildern im Stile der Neuen Sachlichkeit. Seine Vielfältigkeit und Wandelbarkeit in Stil und Technik hat ihm von den Buchautorinnen die wenig schmeichelhafte Bezeichnung 'künstlerisches Chamäleon' eingebracht. In welchem Maße diese Eigenschaft seiner Experimentierfreudigkeit oder aber der Anpassung an die damals aufkommenden Ideologien des Faschismus und des Nationalsozialismus zuzuschreiben ist, vermochten die Autorinnen nicht überzeugend genug darzulegen. Am ehesten gelingt dies noch in dem Abschnitt über die Frauenporträts. Die Darstellung der eigenständigen, intellektuellen, sich auch ihrer erotischen Ausstrahlung durchaus bewussten Frau musste 1932 der züchtigen Ehe- und Hausfrau weichen.

Anton Unterkircher