Rezension 2009
Selma Mahlknecht, Es ist nichts geschehen. Roman
Bozen: Raetia 2009
„Es ist nichts geschehen“ – dieser Titel erinnert an Alois Hotschnigs Erzählband, der den ähnlich verstörenden Titel „Die Kinder beruhigte das nicht“ trägt. „Es ist nichts“, denkt Bess in Selma Mahlknechts neuem Roman, als sie das Krankenzimmer betritt, in dem ihre Schwester Sandy sich gerade von einem Selbstmordversuch erholt. „Es ist nichts geschehen“, beteuert Bess noch einmal, als sie bei ihrer Großmutter sitzt und ihr von Sandy berichtet.
Mahlknecht erzählt die Geschichte von den zwei jungen Frauen Bess und Sandy und ihrer Großmutter. Doch welche Geschichte wird wirklich erzählt? Zum einen geht es um die Lebensgeschichte der Großmutter, der sich der Leser und die Leserin in Sequenzen annähern. Dazwischen lernt man die Geschwister Bess und Sandy kennen. Im Gegensatz zur linear erzählten Lebensgeschichte der Großmutter, die von ihr selbst als Ich-Erzählerin berichtet wird, werden Bess und Sandy über Dialoge und Monologe oder über Briefe charakterisiert. Im Leben der Geschwister gibt es keinen Erzähler, der sie führt, es dominieren die kursiv gesetzten Gedanken Sandys oder die Briefe von Bess, die sie nie abschickt. Die einzige Geschichte, die so etwas wie einen Anfang und ein Ende hat, ist die der Großmutter. In ihrer Geschichte laufen letztlich auch alle Fäden zusammen. Doch diese Geschichte werden am Ende nur der Leser und die Leserin wissen. Bis dahin kann man nur ‚tatenlos’ weiterverfolgen, wie Sandy und Bess verzweifelt versuchen in der Geschichte ihrer Großmutter einen Platz zu finden.
Wer ist diese Großmutter eigentlich wirklich, die ihre Enkel bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit heißer Schokolade und Kuchen verwöhnt und damit meint alles wieder gut zu machen, so wie es vielleicht noch funktioniert hat, als Sandy und Bess noch klein waren. „Warum sagst du eigentlich immer ‚Großmutter’ und nicht ‚Oma’ oder so?“, wird Sandy einmal gefragt. „Weiß nicht“, antwortet Sandy, „Sie ist keine Oma, vielleicht deshalb. Sie ist eine Großmutter. Wörtlich irgendwie. Eine große Mutter, verstehst du?“ Nach dem Tod ihrer leiblichen Mutter bei Sandys Geburt, Bess war damals drei Jahre alt, kümmert sich die Großmutter um die Geschwister. Sie erzählt ihnen oft ihre Lebensgeschichte, von der harten Arbeit am Bauernhof, von Vigo, ihrem späteren Mann, in den sie sich verliebte und der sie von der Arbeit und dem verhassten Vater wegholte. So kennen und lieben die beiden jungen Frauen die Geschichte ihrer Großmutter von Kindheit an. Doch warum hat Bess dann ständig diese Albträume und warum versucht Sandy sich umbringen? Was hat es mit den Briefen auf sich, die Bess ihrer Schwester schreibt und nie abschickt? Eine unausgesprochene Wahrheit liegt zwischen den beiden Frauen, die so ganz und gar nichts mit der „Heile-Welt-Geschichte“ der Großmutter zu tun hat. Etwas muss geschehen sein, denn welche Rolle spielt Rudolf, der pflegebedürftige Bruder der Großmutter, und wer ist dieser unsichere Mann, der ab und zu bei Sandy und Bess auftaucht und der Vater der beiden Mädchen sein soll?
Statt einer Konfrontation gibt es Kuchen und heiße Schokolade und eine Mappe, die Bess Sandy an ihr Krankenhausbett legt. In der Mappe sind verschiedene Dokumente und Zeugnisse aus dem kurzen Leben der leiblichen Mutter der beiden Mädchen. Vor allem Bess, und unausgesprochen wohl auch die Großmutter, verlangen von der schreibbegabten Sandy eine Geschichte, an die sie glauben können; eine Geschichte die Bess’ Monster vertreibt, die sie in ihren Albträumen verfolgen. Denn, wenn nichts geschehen ist, kann ja vielleicht doch noch alles gut werden. Nach langem Zögern gelingt es Sandy irgendwann ein Märchen zu schreiben und kurz ist man geblendet von der Schönheit dieses Märchens und ist geneigt, zu glauben, dass vielleicht wirklich nichts geschehen sei, doch noch ist das Buch nicht zu Ende.
Mahlknecht gelingt ein packender Roman, der durch eine geschickte Konstruktion und durch fein gezeichnete Charaktere besticht. Alle Teile des Romans, sei es nun die Lebensgeschichte der Großmutter oder ein Brief von Bess an Sandy, bekommen eine eigene Seite, was zur Folge hat, dass der Leser und die Leserin immer wieder halb leere weiße Seiten zu sehen bekommen. So hält Mahlknecht ihre Figuren auch optisch gefangen, sie sind isoliert, eingeschlossen in ihre Innenwelt mit ihren Geschichten, Gedanken und Gefühlen. „Verstehe. Ihr bleibt lieber unter euch, oder?“, sagt eine ehemalige Schulkollegin von Bess einmal zu Sandy.
Neben dem dichten Gebilde der drei Protagonistinnen haben nicht mehr viele Personen Platz, dennoch gibt es sie, vor allem in Sandys Leben. Durch die neugierige Anna öffnet sich Sandy nach und nach der Welt außerhalb des Familiengeflechts. Die Dialoge mit Anna wirken oft etwas holprig und weniger authentisch, im Gegensatz zu den eingespielten Dialogen der drei Hauptpersonen. Anna könnte vielleicht noch etwas farbiger gezeichnet sein, sie wirkt ab und zu wie eine gesichtslose Statistin, die die Handlung vorantreibt.
Sprachlich arbeitet Mahlknecht sehr präzise, sie spielt mit Wiederholungen und Motiven, die die Geschichten miteinander verknüpfen; vor allem die kursiven Monologe Sandys sind von hoher Intensität und gehen immer wieder unter die Haut. Etwas irritiert ist man vielleicht von manchen Bildern, wie zum Beispiel „Das Getöse des Aufbruchs wehte durchs Haus“ oder wenn es während einer Autofahrt heißt: „Im Vorbeiwehen ein Blütenzweig, rosarot.“ – aber das nur als Randnotiz.
Mahlknechts Roman ist ein lesenswertes Buch über Liebe und Hass, über das Schreiben und Überliefern von (Lebens)geschichten und über die Suche nach ein bisschen Trost.
Gabi Wild