Rezension 2010
Helene Flöss, Mütterlicherseits. Roman
edition laurin bei innsbruck university press, 2010
Helene Flöss’ neuester Roman Mütterlicherseits (2010) ist ein Familienroman, genauer, ein Generationenroman, der den LeserInnen einen Blick in die Kindheit der Protagonistin Dalila und auf ihre Verwandtschaft mütterlicherseits eröffnet. Mit Informationen aus dem Leben der 53-jährigen Fachärztin für Gerontologie, die in ihrem Beruf aufgeht, privat aber glücklos ist, wird gekargt - Dalilas gegenwärtiges Leben ist auch nur als Ausgangspunkt für den Rückblick in die Kindheit von Interesse. So ist lediglich beiläufig die Rede von gescheiterten Beziehungen, vom Tod ihres Kindes, an das sie täglich denkt, vom distanzierten Verhältnis zur alt gewordenen Mutter, deren „absehbares Sterben“ sie wohl auch deshalb bedrückt, „weil sie sie nicht liebte, wie es sich gehört hätte“ (35). Mit der altersbedingten Umständlichkeit und Vergesslichkeit der Mutter kann Dalila nicht umgehen, während sie als Ärztin täglich mit Einfühlsamkeit und Verständnis mehr Menschlichkeit in das Leben ihrer demenzkranken Patienten bringt, was ihr wohl auch deshalb gelingt, weil sie sich als Kind eine ähnliche Welt erschaffen hat: „Eine Fluchtwelt. Eine Überlebenswelt. Eine Rückzugswelt. […] Ein Leben in einem sich selbst und der eigenen Fantasie genügenden Zustand. Ein Leben gegen den Strich. Ein Leben im Eigen-Sinn; nach der Eigen-Zeit; nach der Eigen-Wirklichkeit.“ (263)
Alle jene, die hier ein moralisches Urteil erwarten, werden enttäuscht, denn anstatt zu werten, beschränkt sich die Autorin strikt auf das Registrieren. Die akkurate Beschreibung von Ist-Zuständen, das Gespür für Widersprüchlichkeiten in Lebensläufen wie das Paradoxon von der verständnisvollen Gerontologin, die mit dem Altern der eigenen Mutter nicht umgehen kann, und das behutsame und unaufdringlich leise Forschen nach psychologischen Ursachen sind zweifellos Flöss’ Stärken, die sie auch schon in ihrer Erzählung Dürre Jahre (1998) unter Beweis gestellt hat. Den Roman Mütterlicherseits mit dieser Erzählung zu vergleichen, liegt aus verschiedenen Gründen nahe: Erzähltechnisch weisen die beiden Texte insofern Gemeinsamkeiten auf, als Flöss beide Male den Erzähler auf Distanz zu den Figuren gehen lässt, als Erzählform die Er-Form wählt und durchgängig eine sachlich-kühle Erzählhaltung ohne Kritik und Wertung wahrt. Eine weitere augenfällige Parallele ist die Namensgleichheit der Protagonistinnen und ihr Unvermögen, den als Kind erlebten Tod des vergötterten Vaters zu verkraften. Während Dali aus Dürre Jahre an Magersucht erkrankt und Halt im Zählen von Kalorien sucht, wird in Mütterlicherseits aus dem fröhlichen Kind Lilí ein schwermütiges Kind, das ewig zu trauern beschließt, eine neue Zeitrechnung einführt und jedes Ereignis daran misst, ob es vor oder nach Vaters Tod passierte. Lilí flüchtet sich in Phantasie- und Ersatzwelten, indem sie Biographien anderer sammelt, um sich „mit den gelebten Leben“ auszukennen (196). Diese Neigung unterstützt die Großmutter, die nach dem Tod des Vaters zur wichtigsten Bezugsperson Lilís wird, mit ihren Geschichten. Mit ihnen, einem Vorrat an Sprichwörtern und Ritualen wie dem täglichen Beten vermittelt die Großmutter Geborgenheit, wobei ihre Welt einer eigenen Logik folgt: Ihre Sprichwörter widersprechen sich und ihre religiösen Grundsätze sind durchaus eigenwillig. Als ein Mieter im Haus Selbstmord verübt, antwortet sie auf Lilís Frage nach dem Warum: „Weil sie fänden, sie hätten schon genug gelebt [...]. Andere wiederum glaubten, weil sie keiner um ihr Einverständnis auf die Welt zu kommen gefragt habe, müssten sie jetzt auch keinen fragen, ob und wann sie diese verlassen dürften.“ Auch ist sie der Meinung, Selbstmord sei „keine Untat und der liebe Gott habe nichts dagegen“, sofern der Selbstmörder keine Angehörigen zurücklasse. (47)
Nach dem Tod des Vaters entfremdet sich Lilí mehr und mehr von der Mutter, obwohl sie in ihr nicht mehr die Rivalin im Kampf um die Gunst des Vaters sehen muss und ihre Liebe für den Vater von ihm auf das einzig verbliebene Elternteil übertragen könnte. Die Mutter vergibt aber diese Chance, denn nach einem 18-Stunden-Tag in ihrer Schneiderei bleibt ihr weder Zeit noch Kraft für mütterliche Gefühle. Sie missversteht ihre Aufgabe als Mutter: Um den Töchtern einen besseren Start ins Leben zu geben, opfert sie sich bis zur Selbstverleugnung auf und baut so ein Schuldverhältnis zwischen sich und ihren Töchtern auf, das nur mit Dankbarkeit, nicht aber mit unbefangener Liebe abzugelten ist. Mit diesem Einblick in Dalilas Kindheit zeigt Flöss auf, dass die Berufswahl ihrer Protagonistin, ihr Verständnis für das Alter, ihr distanziertes Verhältnis zur Mutter, aber auch das Scheitern ihrer Beziehungen Wurzeln in der Kindheit haben könnten: Ob es tatsächlich so ist und inwieweit eine Kausalbeziehung vorliegt, lässt die Autorin die LeserInnen entscheiden.
Flöss zeichnet ihre Figur Dalila als Biographiensammlerin, was der Autorin erlaubt, den Roman als eine Aneinanderreihung von Porträts anzulegen. Flöss hangelt sich von Dalila zum Porträt der Mutter zu dem der Großmutter, von dort zu den Porträts der Kinder und Schwiegerkinder der Großmutter und zu den Kindern der Kinder. An den einzelnen Schicksalen variiert Flöss ihre Motive: Alter, Kindheit, Zeit, Tod, Eltern-Kind-Beziehungen, Ehe und Berufsleben, die Rolle der Frau. Darüber hinaus akzentuiert sie die facettenreich angelegten Motive durch Kontrastierung: Dem Alter wird die Jugend zur Seite gestellt, der Vergötterung des Vaters steht die Distanz zur Mutter gegenüber. Ganz beiläufig entwirft Flöss außerdem ein atmosphärisch dichtes, ganz und gar nicht idyllisches Bild vom Leben auf dem Dorf, wo der Sonntag heilig ist, soziale Hierarchien zementiert bleiben (eine Schneiderin steht über der Näherin und lässt sie dies auch spüren) und Witwen, die erst nach dem Tod des Gatten an ihre gute Ehe glauben, exzessivem Friedhofskult frönen. So meisterhaft das Porträt der Mutter ist, so entbehrlich ist das eine oder andere Porträt der entfernten Verwandtschaft, in der sich Originale wie „Goldonkel“ und „Pechonkel“ inklusive hantiger Ehefrau und Kuriositäten wie Onkel Veit und sein Leben als Jehovas Zeuge auffällig tummeln. Schon allein die quantitative Ballung der Lebensläufe ist auf Dauer ermüdend.
Flöss ist es - wie auch in Dürre Jahre - gelungen, Inhalt und Form perfekt aufeinander abzustimmen: Das Assoziativ-Additive der Kindheitserinnerungen hat seine Entsprechung in kurzen bzw. mehr oder weniger stark verkürzten Sätzen (teilweise auch Einwortsätze), im Verzicht auf Satzkonnektoren und im großzügigen Gebrauch von Absätzen. Zur atmosphärischen Stimmung trägt die bildhafte Sprache bei (einige wenige Bilder sind schief geraten, z.B. ist vom überlaufenden Wörtersack die Rede, S. 7), wohldosiert eingesetzte Regionalismen erhöhen die Authentizität des Geschilderten (aus der Schilderung der Örtlichkeiten kann geschlossen werden, dass Dalilas Eltern vom Dorf stammen, die Familie aber nach dem Tod des Vaters nur noch in Brixen lebt), die allerdings teilweise auch dem ostösterreichischen Raum zuzurechnen sind (z.B. Bedienerin, S. 9). Die wenigen erwähnten Kritikpunkte fallen nicht ins Gewicht: Helene Flöss’ neuester Roman Mütterlicherseits ist insgesamt ein lesenswertes Buch, das durch die gewählte Thematik, die sorgsam ausgeführten Motive und den durchdachten Aufbau, die erzählerische und sprachliche Qualität besticht.
Ruth Esterhammer