Rezension 2010

Raoul Schrott (Übertragung, Nachwort, Anmerkungen), Die Blüte des nackten Körpers. Liebesgedichte aus dem Alten Ägypten
München: Carl Hanser Verlag 2010

 
Vaut le voyage


Borges, Jorge Luis Borges, einer der großen Leser und auch Rezensenten des vergangenen Jahrhunderts, berichtete  anlässlich seiner Buchbesprechung einer englischen Übersetzung der ältesten Lieder der Welt: „Etwa 1916 beschloss ich, mich dem Studium der orientalischen Literatur hinzugeben. Als ich mit Begeisterung und Gläubigkeit die englische Übersetzung eines bestimmten chinesischen Philosophen  las, stieß ich auf diesen denkwürdigen Passus: ‚Einem zum Tode Verurteilten macht es nichts aus, am Abgrund zu wandern, denn er hat mit dem Leben abgeschlossen.‘ An dieser Stelle brachte der Übersetzer einen Asterisk an und teilt mir mit, seine Übersetzung sei der eines rivalisierenden Sinologen vorzuziehen, der folgendermaßen übersetzt habe: ‚Die Diener zerstören die Kunstwerke, um nicht ihre Schönheiten und Mängel beurteilen zu müssen.‘ Da hörte ich zu lesen auf. Ein mysteriöser Skeptizismus hatte sich in meine Seele geschlichen.“
     Klar ist freilich auch, dass einem das Lesen dort vergehen kann, wo in Bezug auf Übersetzung zu korrekt vorgegangen wird, denken wir nur einmal an die Einheitsübersetzung der Bibel. Arnold Stadler, Büchner-Preisträger des Jahres 1999, schreibt im Nachwort zu „Die Menschen lügen. Alle“ und andere Psalmen: „Wo wird so gelebt, gesprochen und verstanden wie in dieser Einheitsübersetzung? Darin wollte ich diesen Texten möglichst treu sein, indem ich versucht habe, die Psalmen als Gedichte wiederzugeben. Ein tödlich genauer Wortlaut, wie ihn eine philologisch höchst präzise Wiedergabe darstellt, bedeutet vielleicht auch eine Übersetzung zu Tode: das Ende des Gedichts.“ Psalm 116, 1-9 liest sich also so bei ihm: „Ich liebe ihn,/denn er hörte mich./Er erhörte mich, genau an dem Tag, an dem ich/zu ihm schrie!/Ich war vom Tod umschlungen./Die Todesangst beherrschte mich./Ich saß im Dreck./Da schrie ich zu Gott./Rette mich! Schrie ich.“
     Mit diesen beiden Aspekten sind wir, thematisch und übersetzungstechnisch, bei Raoul Schrott angekommen, denn: hier geht es um Liebe und um Gedichte. „bruder, liebster, mein herz stellt deiner liebe nach/und allem was sie erschuf;/lass mich singen davon“, so hat es jemand niedergeschrieben auf Papyrus, den Papyrus Harris II. Bernard Mathieu vom Institut Français d’Archéologie Orientale hat diesen mit anderen Überlieferungsträgern – Kalksteinscherben und eine Vase – reich kommentiert in seiner Edition La Poésie Amoureuse de l’Égypte Ancienne veröffentlicht, und darauf beruhen Schrotts Nachdichtungen. Und auch bei ihm finden wir den Kommentar. Etwa wenn es da heißt: „einzig ein kuss von dir, nase an nase/ließe mein herz wieder klopfen –“, so lesen wir als Fußnote 3: „Der Nasenkuss stellt die Interpretation des Wortlauts – ‚der Geruch deiner Nase, wenn du allein bist, belebt mein Herz wieder neu‘ – dar. Die Nasen aneinanderzureiben galt als übliches Zeichen der Zuneigung; das Wort ‚Kuss‘ wurde mit dem Zeichen der Nase geschrieben.“
     Das ist Dichtung und allenfalls erläuternde Rivalität, sehr alte Dichtung im übrigen, und diese alte Dichtung hat viel mit der Kunst der Schrift zu tun, Hieroglyphen, die in diesem Buch auf mehreren Seiten original abgebildet sind, neben rotbraun kolorierten Motiven, die den Ton angeben, exotische Frauenfiguren zumeist. „Bilder und Buchstaben“, so schreibt Ernst Gombrich auf einer Seite seiner berühmten Geschichte der Kunst, „sind im Grunde Blutsverwandte“, und auf der anderen: „Wenn man vom Herkommen in der Kunst redet, muss man bei den alten Ägyptern anfangen. Von dort ‚kommt die Kunst her‘.“ Die hier vorliegende Kunst hat nichts Pyramidales, sie ist Bruchstück und es gilt, was Schrott im Nachwort feststellt: „Die spezielle Kunstsprache dieser Lieder, mit ihrem artifiziellen Vokabular und oft noch unklaren Tempusformen der Verben, sind der Grund, weshalb es kaum Texte gibt, bei denen die Übersetzungen so weit voneinander abweichen.“ Eine literaturgeschichtliche Einordnung wagt Schrott dennoch und sie lautet: „Ihren literaturgeschichtlich einzigartigen Rang erhalten diese Liebeslieder durch den nuancierten Ausdruck subjektiven Gefühlslebens. Sie sind weit weniger formelhaft gehalten als etwa die sumerischen Gesänge einer Enheduanna oder Illumiya fast ein Jahrtausend früher und selbst noch individueller als die Lieder der Sappho 700 Jahre später, mit der sich gemeinhin der Beginn der ‚modernen‘ Liebeslyrik ansetzen lässt.“
     Wenn einer also, ein Leser nämlich, mit diesem Autor eine Reise tut, so kommt er, kann man sagen, weit herum; und man darf auch sagen: Vielleicht ist es ganz gut, wenn er ein wenig von Borges‘ mysteriösem Skeptizismus im Reisegepäck dabei hat. Dann aber kann er auf Spuren im Meersand der Übersetzungen stoßen, die ihn erstaunen machen könnten.
     Ein Beispiel: 1. „meine augen auf die gasse gerichtet/auf seine schritte horchend im staub/schau ich den ganzen tag hinüber zur tür/in der hoffnung mein liebster tritt ein.“ 2. „Ich will doch aufstehn/und herumgehen in der Stadt,/in den Gäßchen und auf den Plätzen/will ich suchen,/den mein Atem liebt./Ich suchte ihn/und fand ihn nicht … Da fand ich,/den mein Atem liebt,/ich packte ihn/und ließ ihn nicht los,/bis ich ihn heimbrachte/ins Haus meiner Mutter/und ins Gemach der,/die mich empfing.“ 3. „welch ein glück in der erfüllung dich zu sehen/in deiner kammer, schöner mann –/dein arm um den hals, die hand an meinem busen/deine liebe groß und hart in mir/… ich war bei meinem liebsten in seinem gemach./mein herz ist glücklich nun über alles maß -“.
     1. und 3. sind Ägyptisch und in Schrotts Übertragung.
2. aber ist Hebräisch und eine Übertragung von Klaus Reichert. Reicherts Vorlage ist das Hohelied Salomos. Man merkt – und darin sind sich die vergleichende Literaturwissenschafter einig: Im Hohenlied wirkt die altägyptische Liebeslyrik nach. Man merkt aber auch, was Reichert zu seiner Übertragung ausführt: „Ich habe versucht, die alten Buchstaben mit den Sinnen neu zu lesen. Nachzufühlen, nachzuhorchen, was sie sagen und wie sie es sagen. Darüber werden Wirkungsgeschichte und historische ‚Bedingungen‘ eher zu einer Verlegenheit oder einem Abwehrgestus. Die Übersetzung möchte Wieder-Gabe sein: der Versuch, etwas zurückzugeben von dem, was mich in diesen Zeilen immer neu in Atem hielt.“ Mir scheint, diese Herausforderung der Wieder-Gabe uralter Gefühle um die Liebe ist Raoul Schrott in diesem wunderschön gestalteten Buch sehr gut gelungen.

Bernhard Sandbichler