Rezension 2010

Alois HotschnigIm Sitzen läuft es sich besser davon. Erzählungen
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009

Das gar wankelmütige Bewusstsein

Auf Alois Hotschnig war stets Verlass. Die österreichische Geschichte ging ihm nach, und um sich von ihr zu befreien, erzählte er davon, wie Menschen wüten, wenn sie einen Freibrief für Gewalt ausgestellt bekommen. Orte seiner Romane und Erzählungen galten ihm nie als neutrale Handlungsräume, sie bargen Geschichten voller Schrecken. Ein Haus, ein Platz, eine Wiese, so unscheinbar sie auch immer wirken mochten, sie bargen vergangene Grausamkeiten, die ein raffinierter Spurenleser allmählich zu entziffern vermochte. Orte waren schon deshalb nicht unschuldig, weil die Menschen, die sie sich zueigen gemacht hatten, von dieser Vergangenheit geprägt waren und darüber das Sprechen verlernten. Die Literatur von Hotschnig hatte das Ziel, das eingeübte Schweigen zu brechen.
Jetzt, so scheint es, ist alles anders. Wir befinden uns in der Gegenwart und in der abgeschotteten Welt von Heim, Klinik und Wartesaal. Hier treffen wir auf die
Ausgemusterten der Gesellschaft. Die Alten, die Kranken, die Irren, die in ihrer eigenen Welt leben, zu denen ein anderer kaum jemals Zugang findet, bekommen jetzt den Status von Hauptpersonen zugeschoben. Eine andere Art von Schweigen macht jetzt dröhnend auf sich aufmerksam. Die Figuren, die aus der Welt gefallen in die lähmende Routine des Immergleichen gezwungen sind, sind auf sich allein zurück geworfen. Sie führen eine Inselexistenz, weil ihnen die Wirklichkeit, aus der sie entfernt wurden, keinen Halt mehr bietet. Ihre Versuche, mit anderen sprachlich in Kontakt zu treten, wirken wie vergebliche Flaschenpost aus einem verschrobenen Bewusstsein.
Nicht die Geschichte, der Begriff von Normalität steht jetzt auf dem Prüfstand. Denn Normalität, das gibt uns Hotschnig auf Schritt und Tritt zu verstehen, gibt es nicht. Jeder lebt in seiner eigenen, selbst erworbenen Form davon. Wie schwer ist es doch, Berührungspunkte zwischen zwei Normalitäten zu schaffen. Das ist die Gewissheit des Verfassers, für die er eine adäquate literarische Form benötigt. Damit erweist sich Hotschnig als ein außerordentlich kalkuliert vorgehender Tüftler. Auf den auktorialen Erzähler, den alten Besserwisser, verzichtet er leichten Herzens. Es geht Hotschnig um anderes, um mehr, als einen Sachverhalt oder den Verlauf einer Geschichte, für die Distanz allemal gut ist, darzustellen. Seine Erzählungen sichern Bewusstseinszustände. Aber was heißt schon sichern bei einem derart wankelmütigen, in ständiger Wandlung befindlichen Gegenstand wie das Bewusstsein. Jeder Satz eine Momentaufnahme, der Dauer nicht beschieden ist. Dies umso mehr, zumal es sich ja um Figuren handelt, die sowieso außer Tritt geraten sind. Ihnen wird gut geschrieben, dass sie mit unserem Alltagsverständnis nicht zu fassen sind. Wie aber bringt man subjektive Vorstellungswelten, die sich nicht drum scheren, ob sie mit anderen geteilt werden können, in Sprache?
Hotschnig eignet sich die Gedanken der in ihre Obsessionen Versenkten kurzerhand an. Aber er unternimmt keine Anstrengungen, die schrägen, skurrilen, unvernünftigen Bilder zu zähmen. Sie bleiben fremd, sie sind nicht auflösbar in stimmige Botschaften und klare Einsichten. Einer tickt anders und er muss anders bleiben. Das macht aus kurzen Erzählungen intensive Lesestücke, für die kein Zeitaufwand zu gering ist. Die Erzählungen bilden die Logik alogischen, spontanen, aller Konventionen befreiten Denkens ab.
Was ist von solch einem Beginn zu halten: „Was heißt, was wird aus der Wohnung, wo doch das Haus nicht mehr steht.“ Das Haus ist abgerissen worden, wie soll es von der Wohnung noch eine Spur geben? Was war, befindet sich aber nach wie vor im einen oder anderen Kopf. Deshalb gibt es sie noch, die Wohnung und sie nimmt immerhin noch Einfluss auf das Leben und Erleben von Menschen.
Alois Hotschnig nähert sich der art brut an, die roh und ungeschlacht vorgeht, weil gängige Ordnungen längst abgelegt wurden. Und dann geistert eine zweite Stimme durch den Text. „Ich wünsche einen schönen Siebzehnten“, sagt sie. Und: „Es ist sechzehn Uhr sechsunddreißig.“ Das sieht ganz so aus, als wollte sich hier einer ein Ordnungsraster verschaffen, um nicht verloren zu gehen im Wirbel der Zeitläufte. Wo beginnt der Wahn, welche Ansicht ist medizinisch unbedenklich? Wir wissen es nicht, wenn wir Hotschnig lesen, weil die Grenzen sich als derart fließend erweisen, dass von Klarheit der Entscheidung keine Rede sein kann. Mehrere Stimmen treten in einem Text gegeneinander an, und sie alle behaupten im Besitz der Wahrheit zu sein. Irgendwie haben sie ja doch alle recht. Wo es keine verbindliche, allumfassende Wahrheit gibt, hat jede einzelne, und wirkt sie noch so verkorkst, die Chance, gültig zu sein. Für den einen, der sich in deren besitz wähnt, trifft es zu. Er kommt damit gut durch sein Leben. Und darum geht es doch, oder?
Das klingt alles fürchterlich ernst. Aber diese Erzählungen sind mit der Lizenz zum Lachen ausgestattet. So katastrophal können sich Lebenssituationen gar nicht darstellen, dass sie sich nicht unverhofft ins Komische öffnen. „Herr Hauser, bei uns Ärzten sind Sie am falschen Ort, soll der Arzt zu ihm gesagt haben, Sie sind vollkommen gesund. Das hat ihn doch ziemlich gekränkt.“  
Hat Alois Hotschnig tatsächlich einen radikalen Neuanfang gefunden? Seinem Bemühen, den Entrechteten und Verlorenen eine Stimme zu geben, ist er treu geblieben. Seine Untersuchungen über den Zustand österreichischer Verhältnisse betreibt er verstärkt mit den Möglichkeiten der literarischen Form. Alois Hotschnig – dieser Mann ist nicht zu ersetzen.

Anton Thuswaldner