Rezension 2010
Wer getragen wird braucht keine Schuhe. Carolina Schuttis bemerkenswertes Roman Debüt
Otto Müller Verlag, 2010
„Wer getragen wird braucht keine Schuhe“, denn „[w]er getragen wird“, so heißt es weiter bei Carolina Schutti, „hat einen Träger.“ Die junge Protagonistin von Schuttis Debüt Anna zieht sich immer wieder die Schuhe aus, geht barfuß, auch im Winter. Sie scheint die Kälte nicht richtig zu spüren, so wie Anna überhaupt Probleme hat, irgendetwas zu spüren. Denn sie trägt eine riesige Last mit sich herum. Anna hat durch Unachtsamkeit den Tod ihrer Schwester verschuldetet. Die Schuld wiegt schwer auf ihr. Einen Träger hätte Anna dringend notwendig. Dann trifft sie Harald, einen, der das Leben leicht zu nehmen scheint. In Harald meint Anna jemanden gefunden zu haben, der ihr etwas von ihrer Bürde abnehmen kann, der ihr tragen helfen kann. Doch die introvertierte und schwer traumatisierte Anna braucht lange, um sich ihm anzuvertrauen. Bis es dazu kommt machen die Leserinnen und Leser Bekanntschaft mit einer in sich zurückgezogenen, jungen Frau, die gerade beginnt sich in ein neues Leben einzunisten und versucht ein altes Leben hinter sich zu lassen. Doch genau das will ihr nicht recht gelingen. Sie scheint festzustecken, irgendwo zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die 18jährige Anna arbeitet als Kellnerin und in ihrer Freizeit steht sie meistens am Fenster ihrer Wohnung und beobachtet das Leben der anderen Menschen in den gegenüberliegenden Häusern. Es scheint als wäre Anna ausgeschlossen von dem, was um sie herum passiert, als sehne sie sich nach Ruhe, nach einem Ort ohne Menschen. Die Bilder in ihrer Wohnung zeigen nur Landschaften, in die sich Anna abends, wenn sie heimkommt, hinein fühlt, damit sie einschlafen kann. Tagsüber streift sie durch die Stadt: spielende Kinder, Rosen und immer wieder Wasser („Das Flusswasser ist hellgrau, es hat sich weit ins Flussbett zurückgezogen, man riecht den schlammigen Algenüberzug der freiliegenden Steine.“ (S.19)) begleiten ihre Wege. Carolina Schutti spielt mit diesen Motiven, setzt sie von Anfang an wie beiläufig ein, bis sie sich am Ende zu einem furchtbaren Ganzen zusammenfügen.
Die Autorin hat ihren Roman in drei Teile gegliedert. Prosaminiaturen leiten die jeweiligen Teile ein. Es sind sehr atmosphärische und poetische Skizzen, die Schutti hier voran stellt. Sie könnten auch für sich stehen, ein Stück Poesie – doch Schutti setzt auf diese Weise feine Akzente, die im Laufe des Romans wiederholt oder vertieft werden:
I.a.: Wenn man mit einem harten Absatz auf eine Glasmurmel tritt, die Ferse dabei hin und her dreht, erwartet, das geheime bunte Innenleben der Murmel untersuchen zu können, wird man enttäuscht. Es bleiben nichts als feine Splitter, die man besser nicht in die Hand nimmt. Keine blauen und roten Wellen, die sich in die Luft pusten oder wie Schiffchen auf eine Pfütze setzen lassen. (S. 5.)
Später wird Anna durch ein Geräusch an das Spielen mit Murmeln erinnert werden und sich fragen, ob Kinder eigentlich noch damit spielen.
Mit jedem Teil des Romans rückt man ein Stück näher an Anna heran. Im zweiten Teil wird aus Haralds Perspektive erzählt und schließlich taucht man – im dritten Teil – ganz in Annas Gedanken und Gefühlswelt ein. Und gerade dieser letzte Teil geht an die Substanz und zwar nicht nur an die des Lesers, sondern auch an die der Sprache. Wenn man Carolina Schuttis Erzählungen kennt, weiß man, dass sie es versteht mit Sprache umzugehen, dass sie die Kunst der Verdichtung beherrscht und die Wörter genau wählt und einsetzt. Nun ist der Autorin auf diese Weise ein erster Roman gelungen, der in sich stimmig ist und in dem immer wieder Bilder von außerordentlicher Intensität zu finden sind: Beispielsweise, wenn Harald und Anna während einer Wanderung vor der herannahenden Dunkelheit in einer Kapelle Unterschlupf suchen und Harald, umgeben von den Schutzheiligen der Bergsteiger, einer von flackerndem Kerzenlicht beleuchteten Teufelsfigur und den Namen von Verunglückten, von Annas Unglück erfährt. Nach dem Geständnis, das beklemmend zwischen Anna und Harald stehen bleibt, schläft Anna unter der Figur des Heiligen Bernhards ein. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass diese Heiligenfigur gegen Besessenheit angerufen wird. Hier legt Schutti wohl schon eine Spur in den dritten Teil des Romans. Über den dritten Teil sei aber nicht zu viel verraten, nur so viel, dass darin Carolina Schuttis ganze erzählerische Stärke zum Ausdruck kommt. Ob Anna einen Weg zurück in ein richtiges Leben finden wird? Nur so viel sei gesagt: Carolina Schutti hinterlässt den Leser nicht ohne einen Funken Hoffnung. Und auch wir hoffen: Auf weitere Romane dieser Autorin!
Gabi Wild