Rezension 2010
Orge Georwell [Gerald Kurdoglu Nitsche], 2084. Aufzeichnungen aus 2001 Nacht. Protokoll der laufenden Ereignisse. Hrsg. V. Bruno Gitterle u. Roland Ranach
Landeck: EYE Verlag 2010
Es galt in der ernstzunehmenden Literatur bisher nicht als angemessen, sich mit ‚Katastrophendenken‘ und ‚Weltuntergangsprophezeiungen‘ abzugeben. Doch allmählich gelangt die Tatsache des Klimawandels und seiner konkreten Folgen in die Köpfe der Menschen und damit setzt sich auch die Notwendigkeit der künstlerischen Auseinandersetzung durch: Das Thema ist in der zeitgenössischen Literatur angekommen. „Requiem auf die Zukunft“ titelte der Standard vom 26. November 2010 einen ganzseitigen Beitrag des renommierten deutsch-bulgarischen, derzeit in Wien lebenden Schriftstellers Ilja Trojanow, in dem er der Frage nachgeht, wie man einen Roman über die sich zuspitzende Klimakatastrophe schreiben könne. Ein solcher Roman – es geht um die zu erwartenden Umwälzungen, die von der Bedrohung des „letzten heiligen Hains auf Erden“, der Antarktis, ausgehen – liegt offenbar derzeit auf Trojanows Schreibtisch, der Protagonist des Buches soll ein (real existierender) Gletscherforscher alten Schlages sein. Und was sich der Autor zum Ziel gesetzt hat, ist nichts weniger als dass die Leser aufwachen und einen Satz wortwörtlich nehmen: „Wenn die Antarktis untergeht, geht die Menschheit unter“.
Wie ein (im Bereich der fiktionalen Literatur anzusiedelndes) Buch über ‚das Klima’ geschrieben werden kann, zeigt auch der unlängst in Tirol erschienene Text „2084“ mit dem Untertitel „Protokoll der laufenden Ereignisse“ – kein Roman also, sondern ein fiktiver Tatsachenbericht, also ganz konkret ein „Requiem der Zukunft“. In Anlehnung an George Orwells berühmten Roman „1984“ ‚tarnt’ sich der Autor Gerald Kurdoglu Nitsche mit dem Pseudonym Orge (Orsche) Georwell, damit auch jeder sofort weiß, was hier gespielt wird: Die literarische Herangehensweise ist eine groteske, passagenweise satirische, das Genre allerdings, wie schon bei Orwell, keineswegs Science Fiction. Die Realität hat fictions dieser Art schon öfters bei weitem überholt, was in diesem Buch ‚protokolliert‘ ist, könnte demnach von der Wirklichkeit in etwa 70 Jahren deutlich übertroffen werden.
Gerald Kurdoglu Nitsche, bildender Künstler aus Landeck mit einem ausgeprägtem Nahverhältnis zu Sprache und Literatur, Herausgeber mit dem Schwerpunkt Literatur der "Wenigerheiten", Galerist, ehemaliger Lehrer, als Künstler in zahlreichen Ausstellungen gestern und heute vertreten, weiß, was er tut: Er erzählt unsere Geschichte der Zukunft, eine Geschichte, die nur scheinbar ‚humorig‘ ist: Das Lachen und ‚Witzeln’, mit dem wir üblicherweise unser Unbehagen vertreiben, soll uns im Hals stecken bleiben. Wie Trojanow geht es auch Nitsche darum, dass die Leser sehend und damit endlich handlungsfähig werden. Diese Art von ‚Lebenshilfe‘ ist (auch in der Literatur) legitim, denn, so heißt es im Buch, die Zeit drängt, „höhere Ambitionen, literarisches Herumschwefeln, -schwafeln, –schwadronieren“ sind fehl am Platz, die geforderte „Position ist die eines Beobachters, Zeitzeugen und sachlichen Chronisten“. Und weiter: „Ab heute wird nur noch Tacheles geredet, geschrieben“ (vgl. Vorwort, S. 10). Der Anspruch, Tatsachen der Zukunft zu berichten, ist, nimmt man Nitsches Ansatz ernst, keineswegs Widerspruch, keineswegs Mumpitz. Denn der Autor geht davon aus, dass die Zeichen, die in der Gegenwart zu beobachten sind, klare Aussagen über die Zukunft möglich machen.
Nun denn, wie sieht sie also aus, unsere Zukunft? Wir leben noch, wenngleich deutlich dezimiert. Unser Lebensstil hat mit dem heute noch gewohnten nur mehr wenig zu tun. Stürme und Überflutungen haben mit sich gebracht, dass das, was oben war, sich nach unten verkehrt hat, da ist kein Stein mehr auf dem anderen, doch der Grundinstinkt ist nach wie vor aktiv, wir kämpfen uns weiter. Wir strampeln allerdings nicht mehr um Luxusgüter, nicht um Fortschritt im heutigen Sinn und nicht um die Kontrolle einer Wirtschaftskrise, wir haben mit dem reinen Überleben genug zu tun. H2O ist die magische Formel, die das Buch, welches als Tagebuch, als Tagesprotokoll geschrieben ist, durchzieht: Wasser ist, das wissen wir schon im Jahr 2010, Leben und Tod in einem. Wasser, das ist unsere Natur, auch die unseres Körpers, es bestimmt unser Dasein, aber es muss sich in der richtigen Balance mit den anderen Elemente befinden. 2084 haben wir noch einen Wein und ein gelegentliches Schnapserl, sogar das. Wir haben sie immer noch, die Glücksmomente. Doch abgesehen davon haben wir zu viel Wasser. Doch auch anderes gibt es zu Hauf: Müll, zum Beispiel. Wieder anderes ist abhanden gekommen: Land und Nahrung etwa. Doch obwohl uns gar viele Sorgen drücken, klingt das eine und andere sogar tröstlich:
Mit der Zeit finden sich einige „Wasservögel“ und auch ehemalige Landratten über dem durch die Überflutung verlorenen Land zu geradezu heimeligen Ensembles, gemütlichen Dörfchen zusammen. Zug- und Hängebrücken, vergleichbar mit den Baumhäusern, ermöglichen geselliges Beisammensein, sodass den alten Zeiten nicht mehr nachgetrauert werden muss.
Orge Georwells Buch ist eines, das man am besten langsam liest, sich Abschnitt für Abschnitt zu Gemüte führt wie eine Medizin in Tropfenportionen. Man mag es sich auf das Nachtkästchen legen, doch sollte man tunlichst vermeiden, vor dem Einschlafen darin zu lesen. Es ist ein Buch zum AUFWACHEN, ein Buch für den Morgen, das Morgen. Was wir als mit Intelligenz und Vorstellungskraft reichlich ausgestattete Wesen durchaus zu wissen in der Lage wären, was wir aber gerne verdrängen, wird uns hier erzählt, und zwar so, dass wir es noch verdauen können. Weniger verdaulich und gedeihlich werden die Erfahrungen unserer Kinder sein, jedenfalls dann, wenn wir so weitermachen wie bisher.
Was wir neben dem Wissen über die Zukunft vom Autor noch, quasi als Zugabe, geschenkt bekommen, sind unzählige literarische Einfälle, Gedanken-Ausschweifungen, Sprachspiele und Text-Zauberhaftigkeiten. Denn, so scheint uns der Dichter sagen zu wollen, auf dem Weg zur Wirklichkeit soll uns: wird uns bei Gott nicht langweilig werden.
Erika Wimmer