Rezension 2011
Raoul Schrott, Arthur Jacobs: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren
München: Carl Hanser Verlag 2011. 528 Seiten
Keine Neuro-Revolution
„Gehirn und Gedicht“, ein gemeinsames Buch von Raoul Schrott und Arthur Jacobs, ist ein enzyklopädischer Wurf mit dem scholastischen Anspruch einer summa – vorhandenes Wissen glossierend, paraphrasierend und debattierend. Der Bogen führt über 375 Seiten alphabetisch von A bis Z, anschließend über weitere 150 von römisch eins bis zwölf. Die Struktur des Werks ist dialogisch, allein schon, weil zwei Autoren ans Werk gegangen sind. Der eine steht als Dichter, Übersetzer und Dozent der Vergleichenden Literaturwissenschaft für das Gedicht, der andere als Professor für Allgemeine und Neurokognitive Psychologie an der FU Berlin für das Gehirn – womit das Wissensgebiet abgesteckt ist.
Als Schrott die Samuel-Fischer-Gastprofessur an der Freien Universität Berlin innehatte, bestritt er seine Antrittsvorlesung im Herbst 2008 noch mit Ernst Pöppel, der als einer der wichtigen Hirnforscher unserer Zeit gilt. „Schrotts Nachdenken über Funktion und Rolle der Poesie hatte ihn schon vor einiger Zeit in Kontakt mit Pöppel gebracht, der über Bewusstsein, Kognition und Neurophysiologie forscht. Eine Verbindung, aus der zurzeit ein gemeinsames Buch entsteht, das Ende kommenden Jahres erscheinen soll“, war und ist auf http://www.fu-berlin.de/campusleben/lernen-und-lehren/2008/081106_raoul_schrott/index.html zu lesen. Daraus ist offensichtlich nichts geworden, jedenfalls spielt nunmehr Jacobs jene Rolle des supervidierenden Sekundanten, die der von Neugier getriebene, im positiven Wortsinn dilettierende Raoul Schrott auch schon bei anderen Sachbuch- und Übersetzungsprojekten Fachwissenschaftlern wie Robert Rollinger, Professor für Alte Geschichte und Altorientalistik in Innsbruck, zugedacht hat. Schrotts Textbeiträge haben mehr traditionell essayistischen Charakter, die Jacobs traditionell wissenschaftlichen. Wobei: punktgenau auseinanderzudröseln sind diese beiden Hälften nicht. Auch wenn sie typographisch getrennt aneinandergereiht werden, laufen sie ineinander.
Warum überhaupt diese Neugier auf das neurobiologische Fundament des Gedichts? Das mag wohl auch mit dem grassierenden „Neuro-Pop“ zu tun haben, zu dem der oben genannte Ernst Pöppel mittlerweile offensichtlich auf Distanz gegangen ist, nachdem er doch selbst ein Buch geschrieben hat mit dem Titel „Zum Entscheiden geboren. Hirnforschung für Manager“. Einer seiner Kollege, Martin Korte, hat ein anderes solches Buch vorgelegt: „Wie Kinder heute lernen. Was die Wissenschaft über das kindliche Gehirn weiß. Das Handbuch für den Schulerfolg“; ein dritter und nicht minder prominenter, Gerhard Roth, verfasste eines mit dem Titel „Bildung braucht Persönlichkeit: Wie Lernen gelingt“; ein vierter schließlich, Stanislas Dehaene, ist mit „Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert“ bereits recht nahe an unserem Buch.
Diese vier zumindest sind ehrlich genug, mit ihren neurowissenschaftlichen Erkenntnissen keinen falschen Enthusiasmus in punkto praktischer Erkenntnis und Umsetzung zu entfachen. Die Themen, die sie behandeln, sind brisante Themen der Zeit; der Zeitgenosse möchte wissen, warum was wie funktioniert und vor allem, wie man die Funktion schneller besser machen kann. Die Frage ist: Will dies der Zeitgenosse auch im Fall des Gedichts wissen? Die Antwort ist: ja. Schneller besser wird dadurch nichts, das Buch rollt aber Fundamentales in Bezug auf Literatur, von Lesekompetenz bis Trope, neu auf. Die Botschaft für die Dichter selbst bleibt Schrotts bekanntes Credo: Wer den Sprung in die Dichtung wagt, soll ihren Ursprung kennen. So weit, so gut. Und selbstverständlich wäre es schön, wenn das hier Verhandelte – „neuro“ hin oder her – Eingang in die schulische und universitäre Lehre fände. Gegen die polemisiert Schrott beharrlich, im Wissen, dass beide Systeme sehr konservativ sind.
Eine dritte Leserschicht neben Dichtenden und Lehrenden von der Dichtung – den Leser schlechthin nämlich – kann man sich für dieses Buch aber gar nicht zahlreich genug wünschen, einfach weil Lesen sinnvoll ist und Gedichtelesen sowieso. Fragt sich, ob der beachtliche Umfang dieses Readers zum Lesen verführt, das neurobiologische Kraut macht er jedenfalls nicht fetter: Die meisten Erkenntnisse sind relativ banal und so allgemein, dass sie für die Poetik kaum Einsichten bringen, die erfahrene Interpreten nicht längst schon von sich aus gemacht hätten. Traditionelle Interpretationen finden sich im Übrigen auch in diesem Buch, und es sind nicht die schlechtesten.
Bernhard Sandbichler