Rezension 2011

Judith W. Taschler, Sommer wie Winter. Roman
Wien: Picus Verlag 2011. 200 Seiten


Eine unglückliche Tiroler katholische Kindheit

Judith Taschler ist mit „Sommer wie Winter“ ein spannender kleiner Roman gelungen. Das Kleine bezieht sich auf zwei Aspekte: auf Satz und Buchformat einerseits, und andererseits darauf, dass der Roman weniger traditionelle Erwachsenen- als Jugend-Literatur ist. Eine solche Klassifizierung ist keinesfalls ein ästhetischer Abstrich. Autoren wie Mats Wahl oder Andreas Steinhöfel sind schließlich hoch geschätzte Zeitgenossen. Steinhöfels Coming-of-Age-Saga „Die Mitte der Welt“ (1998) schaffte es, wenn ich mich recht entsinne, nach Erstpublikation bei Carlsen ins Literaturprogramm des Suhrkamp-Verlags; umgekehrt kam Peter Schwaigers Adoleszenz-Roman „Vito“ (1999) als Erwachsenen-Literatur auf den Markt, während die dtv-Ausgabe sich eindeutig an jugendliche Leser wandte. Es gibt also Werke, welche die Demarkationslinie zwischen erwachsen und jugendlich überschreiten, und „Sommer wie Winter“ ist eines davon.

Wie Schwaiger übrigens deckt Taschler ihre Geschichte eines Verbrechens in Protokollform auf, wobei sich bei ihr sechs von sieben Familienmitgliedern in „kleinen“ Therapiesitzungen mitteilen, sodass eine geglättete Umgangssprache zu Wort kommt, keine überinstrumentierte Literatursprache. Im Zentrum stehen Alexander Sommer, 19 Jahre, und seine Lebensgeschichte bis zum Zeitpunkt der Aufdeckung eines grausamen Familiengeheimnisses. Schlimmer als eine normale unglückliche Kindheit, schreibt McCourt in „Die Asche meiner Mutter“, sei „eine unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer die unglückliche irische katholische Kindheit“. Judith Taschler hat jedenfalls das Ihre dazu getan, eine unglückliche Tiroler katholische Kindheit als nicht weniger schlimm zu rekonstruieren: ein Pflegekind auf einem Bauernhof mit Gästebetten und Familienanschluss, viel Stallgeruch und Dorfmief – Sölden im Ötztal vor dem Russentourismus, Mitte der 1970er-Jahre bis Anfang 1990, die Zeit der Therapiegespräche.

Trotz der Distanz des Geschehens zu unserer Zeit bieten Taschlers Protagonisten großes Identifikationspotenzial, und die gewählte Erzähltechnik gewährleistet einen Grisham-Effekt, dem man sich hingeben kann (auch wenn dieser einer additiven Steigerung des „schlimmen“ Schicksals geschuldet ist). Taschlers Konzept ist jedenfalls aufgegangen. Ihr  Debüt ist mittlerweile in der dritten Auflage. Die Autorin war in diesem Jahr für den Franz Tumler-Literaturpreis für zeitgenössische deutschsprachige Romane nominiert. Ein schöner Achtungserfolg!

Bernhard Sandbichler