Rezension 2011
Vera Vieider, Am Hafen. Gedichte
Innsbruck: edition laurin bei innsbruck university press 2010
Der Titel „Am Hafen“ bündelt die Assoziationen einer südlichen Landschaft, deren Elemente wie Meer und Strand, Sonne und Himmel, Wind und Wellen als dominantes Bildfeld die Gedichte durchziehen und von den Fotominiaturen, die den Band in vier Zyklen gliedern, visualisiert werden. Wenngleich die Autorin mit diesem ‚mediterranen Komplex’ ein traditionsreiches Sujet deutschsprachiger Lyrik aufgreift und damit Gefahr läuft ins Klischee zu verfallen, besteht ein wesentlicher Teil der Qualität ihrer Gedichte gerade darin, ihm zu entkommen: oft nur durch eine geringe Verschiebung des Blicks („Aschenes Blau“) oder durch originelle lyrische Figurationen wie den „Blau Lächler“ oder den „Sucher am Meer“. Das Motto des Bandes, in dem die Grundbefindlichkeit dieses lyrischen Ichs kondensiert, lässt denn auch keine Illusionen einer südlichen Idylle aufkommen: „Momentloses Warten / Ein Sandspiel im Wasser / Ein Echo am Ufer / Ringelblumen im Sturm verblüht“.
Die Erfahrungen und Empfindungen, Wünsche und Gedanken, die in einer komprimierten und bisweilen lakonischen, mit sensiblen Bildkomplexen durchsetzten Sprache artikuliert werden, lassen den Spannungsbogen der Geschichte einer Liebesbeziehung erkennen, die von Begehren und Verlust („Herzriss“, „Ein Hinken am Herzen“), von Wut und Trauer in der Erinnerung („Als alles abseits wurde“) sowie von ambivalenten Gefühls- und Bewusstseinslagen geprägt ist, wie sie sich im Bild von den „funkelnden Scherben“ verdichten. In der lyrischen Aufarbeitung dieser Geschichte werden gleichzeitig Aspekte der poetischen Erinnerungsarbeit thematisiert („Am Ende des Bettes“) sowie generelle Fragen nach den Möglichkeiten der poetischen Sprache gestellt und Antworten darauf gesucht: Poesie erscheint als Wahrheitssuche („Tag der Poesie“), als mühsamer Prozess vom Schweigen zum Wort zu kommen („Ein Versuch“), als spannungsgeladenes Medium der Erinnerung („Eine Erinnerung unter den Lidern / wärmt mir vertraulich die Stirn“ – „huste mir Verlorenes / krampfhaft zurück“) sowie als Ermutigung, seinen Sehnsüchten nachzugehen („Ich bin die Glücksgräberin / die sich Mut antrinkt / mit Worten“). Und immer wieder geht es um die Authentizität der poetischen Sprache („Welches Gefühl steht hinter den Worten“) und um die Einheit von Empfindung und Wort im poetischen Augenblick („Die Wortaugenblicke sind / zu früh zerfallen / in eine verwachsene Sprache“).
Mit dem Thema der Erinnerung kommt auch die Zeit ins Spiel, wie in folgenden aphoristischen Zeilen: „Das Leben hat uns längst / eingraviert einen Stehplatz / auf Zeit“. Im letzten Zyklus des Bandes verbindet sich diese Thematik mit Zuständen der Enge und Beklemmung bis hin zum Ersticken und zur Nähe des Todes: „Der Tod sitzt tief vergraben / zwischen Gedankensäulen“. Dabei wird die jahreszeitliche Metaphorik von Herbst und Winter etwas zu forciert eingesetzt, wobei allerdings auch hier die Bilder eine eigene Ausdruckskraft gewinnen und dem Konventionellen nicht in die Falle gehen („Das Rascheln der Blätter“, „In der Stunde des Schnees“).
Am Schluss positioniert sich das lyrische Ich in der Rolle des verhaltenen Weitermachens („Mit Vorsicht“, „Ich drehe mich weiter“) und des Abwartens auf das Kommende („Jetzt also“), eine Mischung aus Resignation und Zuversicht.
Was an diesen Gedichten ins Auge sticht, ist die präzise Handhabung des Wortmaterials nicht nur im Hinblick auf die metaphorische Ausdrucksweise, sondern auch und vor allem was die Möglichkeiten der phonetischen Stilmittel betrifft. Hinzu kommen die ganz beiläufigen, oft unauffälligen Abweichungen vom konventionellen Sprachgebrauch, die beim Lesen nach kurzem Stutzen als Überraschung, ja vielleicht sogar als kleine ästhetische Sensation empfunden werden; sie gehören zum unverwechselbaren Ton dieser Gedichte, der für ein lyrisches Debüt mit erstaunlicher Sicherheit getroffen wird.
Wolfgang Wiesmüller