Rezensionen 2003
Christian „Yeti“ Beirer (Hg.), Radiophone Literatopkartierung – Heinz D. Heisl, Kurt Lanthaler, Gerhard Ruiss, Helmuth Schönauer.
Innsbruck: Edition Freirad, 2001, (CD).
Tiroler Literatur in ihren natürlichen Entstehungs- und Lebensräumen, in ihrer konkreten geografischen Umgebung, sozusagen im Offroad-Bereich wirken zu lassen, am Beispiel ausgewählter markanter und geschichtsträchtiger Orte, die somit als exemplarische „literarische Biotope“ präsentiert werden und dadurch den Kataster einer akustischen literarischen Kartografierung Nord-, Ost- und Südtirols abzustecken – das war das Konzept des bildenden Künstlers, Karikaturisten und „Yeti“-Kalendermanns Christian „Yeti“ Beirer für sein Projekt „Radiophone Literatopkartierung“. Für diese literarische Expedition wurde die Wendung „literarisches Biotop“ in das Portmanteauwort „Literatop“ gepackt (ein Wort, das die Internet-Suchmaschinen zuvor nicht kannten) und so ausgerüstet zogen drei Autoren zusammen mit dem literarischen Berg- und Biotopführer und „hohen Inspizienten der Tiroler Literatur“ (CD-Booklet) Helmuth Schönauer aus, um an drei verschiedenen Orten zu lesen: Heinz D. Heisl witterungsbedingt in der Dengelgalerie von Reutte – ursprünglich vorgesehen war die Ruine Ehrenstein, Kurt Lanthaler im ehemaligen Zollamtsgebäude am Brenner und Gerhard Ruiss in der Ausgrabungsstätte Auguntum bei Dölsach/Osttirol. Alle Lesungen wurden vom freien Radio Innsbruck „Freirad“ live im Internet übertragen.
Mit Auszügen aus diesen Aufzeichnungen wurde schließlich eine CD produziert und als Ergänzung wurden auf einer zweiten CD die Ergebnisse der Vermessung der Biotope der Kulturvermittelung zusammengestellt, die die Interviews von Helmuth Schönauer mit Oswald Perktold (Pettneu/St. Anton am Arlberg), Joachim Burger (St. Johann/Tirol), Uwe Ladstädter (Lienz) und Robert Renk (Innsbruck) ergaben. Mit den beiden CDs entstand ein interessantes und amüsantes Hörbuch, dem der spezielle Reiz eines Live-Mitschnitts zukommt.
Passend zum Wetter lässt es Heisl am Ort seiner Kindheit in bewährter „High Density“ zunächst mit „kurze schauer“ tropfen und regnen; der große Rezitator lässt dann seine Lettern- und Wortkaskaden und typografischen Partituren unter anderem aus einigen seiner „psalmen“ auch akustisch steigen, um sie schließlich mit „herrn guadalcanal“ wiederholt als „linienmaschinenflugzeug“ in einem „breiten breiten Tal“, das wie das Außerfern „im nordwesten“ liegt und in dem alle Einfamilienhäuser „in spezifischer riegelbauweise“ einander „wie aufs haar“ gleichen, landen zu lassen, musikalisch adäquat begleitet vom Duo AkkoSax.
Das Ambiente verleiht der Lesung von Kurt Lanthaler eine besondere Note: Das alte Zollhaus am Brenner bietet dem Wort-Grunge Lanthalers einen Resonanzraum, der in seiner dumpfen amtlichen Düsterkeit fast schon als Stilmittel wirkt. Ein paar Schnappschüsse im O-Ton aus der Grenzabfertigung Marke Kurt Lanthaler: „So wie es in jedem Tal einen Carabiniere gibt, als Staatsmacht, muss es in jedem Tal eine Literaturmacht geben. Das ist notwendig zur Kontrolle der ortsansässigen Bevölkerung.“ Und: „Eigentlich sollte jeder Zöllner ein Lyriker sein – Könnense mal die Papiere rausreichen, dafür gibt’s ein Gedicht...“ Er liest dann originellerweise nicht direkt aus seinen Tschenett-Romanen, sondern aus den Glossaren zu diesen, „aus dem Text, der kommt, wenn der Roman zu Ende ist; aus dem Text, der hinter der Grenze steht“, so Lanthaler. Aus „Der Tote im Fels“ den Eintrag zu „cazzo“ (ital. für „Seegurke“ und übertragen für „männliches Glied“ ), dem, wie Lanthaler ausführt, „italienischen Zentralbegriff schlechthin“ und aus „Grobes Foul“ den Eintrag zu „Hesamandl“, gemeindeutsch „Ameisenlöwe“. Bei „Herzsprung“ wird das Publikum eingeladen, die Melodie von „Zu Mantua in Banden“ zu summen, Kurt Lanthaler singt dazu die Textversion der „Freien Deutschen Jugend“. Den Abschluss seiner Lesung bildet ein Gedicht in Griechisch und auf Deutsch: „Und am Ende ist alles nur eine Frage der Blickrichtung, ob man denn kommt oder geht.“
Mit dem Connie Francis-Lied „Schöner fremder Mann“ beginnt Gerhard Ruiss, auch Schlagerkonfliktforscher, als „Leihsüdtiroler“ seine Lesung in Auguntum, die er mit seinen prägnanten und pointierten „Indikationen“ fortsetzt, die, wie Ruiss erklärt, „Anwendungsgedichte“ sind, „Gedichte zum Ausprobieren, an sich und/oder mit anderen“. Zum Beispiel „Aufarbeitung“: „nicht dass ich mich / erinnern / könnte / je etwas / verdrängt zu haben“.
In „Literatop“ steckt auch „top“ für „Spitze“ und CD 1 dokumentiert in diesem Sinne eindrucksvolle literarische Spitzen. Auch CD 2 vermittelt interessante Einblicke in den Kulturbetrieb in „Zentrum“ und „Peripherie“, wobei die sogenannte „Peripherie“ als absolut gleichberechtigt und gleich wichtig herausgestrichen wird.
Die Lesungen können auch in voller Länge auf der Homepage von „Freirad“ (http://www.freirad.at) angehört werden.
Vallaster Günter