Monthly Archive for Juli, 2007

Foucault in der Wikipedia (Pentzold über Diskursmacht)

Ich habe mich schon länger gefragt: Wo bleiben denn eigentlich die Diskursanalytiker in der Tradition Foucaults, wenn es gilt, die neuen Medien und vor allem das neue soziale Web (2.0) zu analysieren? Christian Pentzold (Uni Chemnitz) ist nach vorne getreten und hat in seinem Beitrag für das Wiki-Sonderheft von kommunikation@gesellschaft die Wikipedia, genauer: den Beitrag zu “Verschwörungstheorie” unter einer Foucaultschen Perspektive analysiert. Dabei geht es im Wesentlichen darum, nachzuweisen, dass unter der scheinbar einheitlichen Oberfläche der Wikipedia diskursive Verwerfungen und Diskontinuitäten stattfinden (S. 1-2); dass die Wikipedia (darin unterscheidet sie sich nicht von anderen Enzyklopädien) kein neutrales Wissensprojekt ist, sondern dass das hier versammelte Wissen Ergebnis und Material von Machtkämpfen ist und diese zugleich verschleiert. Ein Schuss vor den Bug der Open Source- und Open Content-Enthusiasten, die in Projekten wie der Wikipedia die längst überfällige Verwirklichung der Habermasschen idealen Sprechsituation oder Enzensbergers emanzipatorischen Mediengebrauchs sehen (S. 4)?

Der Artikel beginnt mit einer Darstellung der Grundprinzipien des Wikis (Cunninghams 11 Designprinzipien) und einigen Zahlen zur Wikipedia (S. 3). Es fehlt allerdings eine ausführlichere Darstellung der Wikipedia-Programmatik (wie zum Beispiel die “Five Pillars“, der “Be Bold“-Baustein oder Jimmy Wales’ “Statement of Principles“), die für das Folgende neben den eher technischen Grundmerkmalen von Wikis ebenfalls aufschlussreich sein könnte. Denn die Konflikte, die im Hauptteil des Beitrags untersucht werden, verorten sich im Kontext des Wikipedia-Programms (oder sogar der Wikipedia-Ethik), während die technischen Voraussetzungen, die mit Sicherheit ein ebenso spannendes Untersuchungsobjekt für die Wirksamkeit von Machtdispositiven im Web 2.0 abgeben würden, kaum eine Rolle spielen.

Die sich daran anschließende Darlegung der theoretischen und methodischen Grundlagen der Foucaultschen Diskursanalyse (S. 4-9) ist ausführlich, vielleicht etwas zu ausführlich. Denn es werden hier zahlreiche und doch recht komplexe Listen präsentiert – die vier Momente diskursiver Regelmäßigkeiten, die beiden Widerspruchstypen, die drei Ebenen des Widerspruchs, die drei Funktionen der Widerspruchsformen, die drei Prozeduren der Kontrolle (mit jeweils mehreren Unterpunkten) -, die nur schwer auf die folgenden Analysen bezogen werden können. Das soll nicht heißen, dass die theoretische Darstellung nicht gelungen ist, nur vielleicht etwas zu verästelt für einen theoretischen Rahmen, der auf ein konkretes Beispiel angewandt werden will. Sehr aufschlussreich sind jedenfalls die Ausführungen zur Entstehung der diskursiven Regeln und ihrem Beitrag zur Ausbildung eines Diskursensembles (S. 7-8). An dieser Stelle fehlt mir aber eine Erläuterung zu dem Verhältnis dieses bottom-up-Verständnisses diskursiv-strategischer Regel(mäßigkeite)n und der parallel dazu bestehenden top-down Programmatiken (die oben erwähnten Wikipedia-Richtlinien zum Beispiel). Gerade das Programmelement “Neutraler Standpunkt”, das auf S. 11 kurz umrissen wird, hätte durchaus etwas ausführlicher in seiner Funktion als strategische Ressource in der Machtausübung gewürdigt und vor allem auch in seinen Bezügen zu den eher ritualisierten Formen der Wikipraxis untersucht werden können.

Der Hauptteil des Artikels (S. 10-19) widmet sich dann der Analyse der diskursiven Strategien in der Diskussion des Wikipedia-Eintrags zu “Verschwörungstheorie”. Zunächst wird eine exemplarische Auseinandersetzung um die Neutralitätsfrage dargestellt, die eine Polarisierung einiger Nutzer zur Folge hat und schließlich als Reaktion auf eine Verletzung des diskursiven Rituals zur vorübergehenden Sperrung des verletzenden Benutzers führt. Ein zweites Beispiel liefert die Debatte um die Abstimmung zur “Exzellenz” des Beitrags, in dem entgegengesetzte Verständnisse von Wikipedia-Regeln zu einer strategischen Auseinandersetzung führen. Hier wird mit Hilfe eines ironischen Kommentars die Deutungshoheit über die Verfahrensregel fixiert; die Auseinandersetzung endet mit der Aufgabe des Regelkritikers – also mit einer, nach Pentzold für die Wikipedia nicht unüblichen Selbstzensur.

Letztlich ist es für mich nicht besonders überraschend, dass sich bei einem derart heiklen Thema wie “Verschwörungstheorie” die beschriebenen Machteffekte zeigen. Die diskursiven Diskontinuitäten sind hier nicht nur “kapillar” zu spüren, sondern haben manifeste und beobachtbare Auswirkungen auf das Erscheinungsbild des Artikels, schließlich ist in dem Wikipedia-Artikel selbst darauf verwiesen, dass der Begriff umstritten oder gar strafrechtlich problematisch ist. Das heißt: hier entsteht erst gar keine glatte Oberfläche. Deshalb wäre es in einem nächsten Schritt sicher spanned, Artikel zu analysieren, die sich tatsächlich als neutrales Wissen darstellen.

Ein weiterer Punkt, der möglicherweise für die zukünftige sozialwissenschaftliche Wikiforschung interessant sein könnte, hat mit der von Foucault festgestellten engen Verschränkung von Macht und Wissen zu tun. wiki.PNG Das Design der Oberfläche der Wikipedia lässt sich auch als Versuch lesen, Macht und Wissen zu trennen, beziehungsweise die Durchführbarkeit einer solchen Trennung zu suggerieren: Die Artikelseite ist Ausdruck des Wissens, während die Machtaspekte auf die Diskussionsseite verbannt werden. Hier sind es also nicht nur Praxis-Regeln, die festlegen, welche Diskurselemente auf welche Seite gehören, sondern das Design der Seite selbst legt diese Trennung fest. Hier wäre zu überlegen, ob man nicht zusätzlich den umfassenderen Begriff des Dispositivs einführen müsste, um diese Aspekte einfangen zu können.

Ein vielversprechender Anfang ist mit dem Beitrag jedenfalls gemacht. Jetzt heißt es “Sei mutig!



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    Am 30. November 2000 schreibt Harald Staun im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung einen Artikel, der sich nach einigen allgemeinen Anmerkungen zur Medienkultur auch mit dem Phänomen Weblog auseinandersetzt. Meines Wissens handelt es sich hier nach diesem Beitrag um das zweite Mal, dass die SZ über Blogs berichtet. Hier nun meine Forschungsnotiz dazu:

    Der Text von Harald Staun handelt zunächst gar nicht von Weblogs, sondern von der Tendenz der Medialisierung von Politik. Es geht also nicht um die Inhalte, sondern um die Kampagne. Aber damit nicht genug, Staun beschreibt darüber hinaus noch die Tendenz der medialen Berichterstattung, sich gar nicht mehr (Stichwort “Enthüllungsjournalismus”) mit den wahren Personen hinter der Maske zu befassen, sondern allenfalls mit ihrer medialen Selbstdarstellung. Die Medien nehmen also, er demonstriert dies am Fall des amerikanischen Wahlkampfes, “immer höhere Metaebenen” ein. Damit leitet er dann aber über zum uns interessierenden Thema “Weblog” – für ihn definierbar als “eine[] Art digitaler Tagebücher, die Artikel und andere Weisheiten kommentieren und verlinken”, sind diese doch ein Beispiel par excellence für diese mediale Selbstreflexivität. Zwar wird der übliche Begriff des Tagebuchs in der Definition verwendet, aber das, was dann als Wesenskern der Weblogs beschrieben wird (das Kommentieren und Verlinken) hat mit dem klassischen Tagebuch, zwar durchaus als Kommentar lesbar, aber über die Welt, nicht über einen Text, nur mehr wenig zu tun. Hier erscheinen Weblogs also als Aggregation von Merkwürdigkeiten (das barocke “Artikel und andere Weisheiten” verweist darauf), die auf Grundlage neuer digitaler Technologien verlinkt und zugleich in Anschluss an alte juristische Kulturtechniken kommentiert werden. Als Beispiel für “eine Art” Weblog führt er dann den Rezensionsdienst Perlentaucher auf, der die wichtigsten Artikel des Feuilletons zusammenfasst und durch eigene Anmerkungen ergänzt. Wesentlich ist dabei für ihn: die hohe Aktualität, denn Perlentaucher-Leser haben den Kommentar zur Rezension häufig vor der eigentlichen Rezension vor Augen. Außerdem: die “höchst professionelle[] Gestaltung”, die allerdings für Staun dazu führt, dass es sich nur um eine Art Weblog und kein Weblog im engeren Sinne handelt. Weblogs sind demnach im Umkehrschluss nicht professionell gestaltet.



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    Am 23. Juli 2004 war es dann endlich soweit: Die Süddeutsche Zeitung widmete dem “Blogger” einen eigenen Eintrag in ihrem “Aktuellen Lexikon”. Hier meine Forschungsnotiz dazu:

    Petra Steinberger betont in ihrem Eintrag die Subjektivität des Bloggens, und stellt Blogger als “extrem meinungsfreudig, oft einseitig” dar, weswegen sie auch mit den “Pamphlet-Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts” verglichen werden können. Auf diese Subjektivität verweist auch ihre Definition als “Tagebuch im Internet”, sowie die Einschränkung der Inhalte auf “persönliche Betrachtungen” und “Kommentare”. Kennzeichnend für die Blogwelt ist nach Steinberger auch die hohe Aktualität, denn Blogger erstellen ihre Eintragungen “täglich, manchmal stündlich”. Als dritten wichtigen Punkt wird die Möglichkeit der Diskussion mit den Lesern angeführt, die durch die Kommentarfunktion vieler Blogs ermöglicht wird. Außerdem können die einzelnen Einträge selbst wiederum mit anderen Informationsquellen (“Artikel, Zeitungen oder Blogs im Netz”) verlinkt werden, aber auch hier spielt die Subjektivität eine Rolle, denn verlinkt werden Beiträge, “die er [der Blogger, BK] für relevant hält”. Mit diesem kurzen Zitat ist auch schon ein weiterer Punkt angesprochen: die ausschließliche Verwendung der männlichen Form. Es geht allein um den Blogger, nicht um die Bloggerin. Gerade im Kontext des Irakkrieges wird die positive Funktion von Blogs (“Warblogs”) durchaus anerkannt, die zwischen den Fronten der (irakischen) Propaganda und klassischen journalistischen Berichterstattung liegt. Das Verhältnis der Medien zueinander wird als Konkurrenzbeziehung beschrieben, wobei die Blogs als “neue” Informations- und Meinungsquelle mit den etablierten Medien in Konkurrenz tritt.



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