Im September hatte sich schon Brand eins diesem Thema gewidmet, jetzt gibt es dazu die passende wissenschaftliche Aufarbeitung in dem australischen Journal of Media and Culture: die Fehler. Beide Ausgaben bemühen sich vor allem, das negative Image von Fehlern, seien es Fehlentscheidungen oder Fehler in Kommunikationssystemen, aufzupolieren und ihre wichtige Funktion für die Ermöglichung von Innovationen etwas in den Vordergrund zu rücken.
Wolf Lotter formulierte das in Brand eins wie folgt:
Der noch bei Weitem größere Teil hingegen verschanzt sich hinter dem Wahn, dass Fehler und Irrtümer erst gar nicht entstehen dürfen und dass sie demnach selbst keine Fehler machen können. Diese Anmaßung ist nur mit dem 1870 unter der Bezeichnung “Pastor Aeternus” – der Ewige Hirte – erlassenen Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes vergleichbar. In den profanen Werkstätten des Managements trägt die Unfehlbarkeit den Namen Null-Toleranz.
Auf ganz ähnliche Weise kritisiert Mark Nunes in seiner Einführung zum JMC-Heft das von ihm als augustinisch bezeichnete Fehlerverständnis (Fehler als Abfall von einer perfekten Ordnung im Gegensatz zu der manichäischen Idee des intentionalen Provozierens von Fehlern):
In each of these essays, error, noise, deviation, and failure provide a context for analysis. In suggesting the potential for alternate, unintended outcomes, error marks a systematic misgiving of sorts—a creative potential with unpredictable consequences. As such, error—when given its space—provides an opening for artistic and critical interventions.
Dieses Motiv wird in den zehn Aufsätzen durchgespielt:
Benjamin Mako Hill betont zum Beispiel den erkenntnistheoretischen Wert von Fehlern bzw. technischem Versagen, die einen technologisch-aufklärerischen Wert dadurch erhalten, dass sie eigentlich unsichtbare technologische Hintergründe (man denke etwa an Internet- oder Emailprotokolle) sichtbar machen.
In dem Beitrag von Su Ballard geht es um den künstlerischen Einsatz von Fehlern bzw. provozierten Misreadings, um einem Publikum neue Sichtweisen nahezulegen. Auch Tim Barkers Essay dreht sich um Fehler in der Kunst, genauer: um das Phänomen des “glitch” in der digitalen Kunst, denn diese Ästhetik des Versagens (vgl. dazu den klassischen Aufsatz von Kim Cascone, hier als pdf) verweist auf das Element des Unkontrollierbaren, dass in den meisten Kunstwerken eine wichtige Rolle spielt.
Mit Mehrdeutigkeiten, Potentialen und Rauschen im Zusammenhang mit Agenturbildern und Platzhalterinhalten befasst sich der Aufsatz von Christopher Grant Ward. Die dahintersteckende Industrie erscheint aus dieser von Derrida inspirierten Perspektive als Lieferant von kultureller Uneindeutigkeit und bekommt dadurch schon fast eine aufklärerisch-kritische Rolle. Adi Kunstman berichtet in seinem Beitrag von Lücken in Archiven, auf die sie während ihrer Internetethnographie in queeren russisch-israelischen Migrantencommunities gestoßen ist. Ihr Fokus richtet sich darauf, aus diesen Fehlern und “hauntings” auf die Spur der Funktionsweise von onlinebasierten kollektiven Gedächtnissen zu kommen.
Computerspiele und Avatare sind dann das Thema von Kimberly Gregsons Aufsatz. Sie versucht, eine Typologie von abweichendem Verhalten in Onlinespielen zu entwickeln, um auf diese Weise – ganz ähnlich wie Harold Garfinkels “Krisenexperimente” – auf die Funktionsweisen und Basisselbstverständlichkeiten dieser Spiele zu kommen. Sehr spannend auch das Thema von Michael Dieter, der sich mit dem Hacken von Internetangeboten wie Amazons Search Inside-Feature befasst und auf das kreative Potential dieser “tactical media performances” hinweist.
Mit der erkenntnisfördernden Kraft von Missverständnissen und Misreadings setzt sich Elizabeth Losh auseinander und demonstriert an dem Beispiel der Battlefield 2-Fehlinterpretation im US-Kongress (“SonicJihad“) die Möglichkeiten, solche Fehlleistungen für die Medienkritik fruchtbar zu machen. Sehr schön zur aktuellen Call-In-TV-Diskussion in Deutschland passt der Aufsatz von Yasmin Ibrahim, der die Fehler in interaktiven Fernsehformaten ebenfalls als aufklärerisches Projekt umschreibt, das in der Lage ist, das blinde Vertrauen der Zuschauer in die “Realität der Massenmedien” zu erschüttern. Zum Abschluss widmet sich Martin Mantle noch dem merkwürdigen Verhältnis von genetischen Mutationsängsten und den Fähigkeiten von Comic-Superhelden.
Insgesamt also sehr spannendes und anregendes Heft, das trotz der Vielfalt der behandelten Themen (vielleicht bis auf den letzten Essay) sehr integriert und schlüssig wirkt. Etwas skeptisch bin ich jedoch, was die Basisannahmen angeht, die sich durch das Heft ziehen: die Netzwerk-Gesellschaft wird dort überzeichnet als informationelle Massengesellschaft, die dem Prinzip der Nullfehlertoleranz unterliegt, wenn nicht sogar in Anlehnung an Theoretiker wie Deleuze und Guattari als “informationelles Terrorregime”, das um jeden Preis den Abbruch von Kommunikationen vermeiden muss. Das erscheint mir doch etwas zu überzeichnet, während im Gegenzug die Kommerzialisierung von (scheinbaren) Fehlleistungen fehlt, die jedoch vielen viralen Kampagnen zu Grunde liegt.
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